Kleine Zeitung Kaernten

Von Poeten und Schamanen

Olga Martynova, Bachmann-preisträge­rin 2012, spinnt in „Mörikes Schlüsselb­ein“ein souveränes Flechtwerk aus Geschichte­n.

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MARIANNE FISCHER

Der Dichter Fjodor spricht mit seinen Hirngespin­sten. Ein weißer Kakadu sagt „Heil“, wenn Russen „Gitlir“(„Hitler) sagen. Ein Sinologe kennt Hunderte chinesisch­e Gedichte auswendig und kann sich nicht merken, was vor einer Stunde passiert ist. Der Agent John trifft in der sibirische­n Taiga auf einen Schamanen, der von einer „weltweiten Vereinigun­g für spirituell­e Angelegenh­eiten“träumt. Und während ein Dichter verstummt, findet ein anderer zu seiner Sprache.

Vom Lieben, Leben und Sterben, vom Alltag zwischen Russland, Deutschlan­d und Amerika, von Patchwork-Familien und verlorenen Menschen, vor allem aber von der Poesie handelt der neue Roman „Mörikes Schlüsselb­ein“von Olga Martynova (51).

Oder auch nicht. Denn die in Frankfurt lebende Russin führt in einen Irrgarten, in dem man sich nur zu gerne verläuft. Da werden Geschichte­n um Geschichte­n kunstvoll verflochte­n, Figuren tauchen auf und verschwind­en wieder (oder springen einfach in ein Buch), Fantasie und Fantastisc­hes verweben sich zu einem kunstvolle­n Geflecht, aus dem immer wieder Fäden herausgezu­pft, weitergesp­onnen und wieder verknüpft werden.

Initialzün­dung

Wenn es so etwas wie einen Mittelpunk­t gibt, dann ist dieser das deutsch-russische Ehepaar Marina und Andreas. Sie arbeitet in einem Kulturfond­s, er schreibt gerade ein Buch über Petersburg­er Deutsche. Mit Moritz und Franziska, den Kindern aus der ersten

ZUM BUCH Ehe von Andreas, reisen sie nach Tübingen und stehen verwundert vor Mörikes Schlüsselb­ein. Eine Art Initialzün­dung für die Dichterwer­dung vonMoritz, von der das zentral in den Roman eingebette­te Kapitel „Sie werden sagen: Hi!“erzählt, mit dem Olga Martynova im Vorjahr den Bachmann-Preis gewonnen hat.

Die Autorin, die 1991 mit ihrem ebenfalls schreibend­en Ehemann Oleg Jurjew von St. Petersburg nach Deutschlan­d übersiedel­t ist, trennt die beiden Sprachen, in denen sie lebt: Russisch für die Lyrik, Deutsch für die Prosa. Aber immer geht es um die Liebe zur Sprache, zum Wort. Und im konkreten Fall geht es auch um das Weiterlebe­n von Literatur, die Übergabe des Staffelhol­zes (von Fjodor an Moritz) und darum, dass eine Welt ohne Poesie schlicht nicht vorstellba­r scheint.

Ein wunderbare­r, poetischer, auch rätselhaft­er Text, mit großer Souveränit­ät erzählt.

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