Kleine Zeitung Kaernten

Weckruf für das schwarze Dornrösche­n

ÖVP-Vordenker wollen mit Streitschr­ift eine Debatte über ihre ausgelaugt­e, aber machtfixie­rte Partei vom Zaun brechen.

- MICHAEL JUNGWIRTH

In der ÖVP brodelt es – mehr denn je. Eine Gruppe hochrangig­er Vordenker aus dem Innersten der Partei hat jetzt eine fast 200-seitige Streitschr­ift mit demTitel „DieVolkspa­rtei – Evolution“verfasst, die einer Generalabr­echnung gleichkomm­t. Pikantes Detail: Das Vorwort zu dem äußerlich einem Schwarzbuc­h gleichende­n Konvolut stammt von Parteiobma­nn Michael Spindelegg­er, der seinen Text abgegeben hat, ohne die 23 Beiträge der schwarzen „Jungtürken“zu kennen.

„Die ÖVP muss aus ihrem Dornrösche­nschlaf herauskomm­en, sonst versinkt sie in der Bedeutungs­losigkeit“, räsoniert Harald Mahrer, Präsident der JuliusRaab-Stiftung und Mastermind der Initiative. „Die ÖVP hat kein klares Leitbild. Das Programmis­t diffus, viele Wähler fragen sich, warum sie uns überhaupt wählen sollen.“Das politische Verhalten sei widersprüc­hlich geworden. „Destruktiv­er Streit, der nach außen getragen wird, prägt die Wahrnehmun­g.“

Mahrer stellt entschiede­n in Abrede, dass er einerObman­ndebatte Vorschub leisten wolle. „Alle Beteiligte­n eint die Sorge, dass man etwas tun muss, will die ÖVP in Zukunft noch eine Rolle spielen. Wir wollen einen offenen Diskurs. Die Verantwort­ung dafür kann man nicht einfach an den Parteivors­tand abgeben.“

Schweigend auf dem Sofa

Clemens Martin Auer, einst politische­r Direktor der ÖVP, ortet einen „lähmenden, technokrat­ischen Geist fernab vom Anspruch, sich lustvoll und gestalteri­sch in das Weltgesche­hen einzumenge­n“. In den letzten Jahren sei an „programmat­ischenAuss­agen nicht viel mehr als ,Her mit demZaster‘ in Erinnerung geblieben“. Die ÖVP dürfe nicht „schweigend auf dem Sofa der Macht sitzen und im Kostüm des Technokrat­en sich lediglich um das Klein-Klein des demokratis­chen Regierens kümmern“.

Christophe­r Drexler, umtriebige­r Klubobmann der steirische­n ÖVP, bedauert, dass die ÖVP auf Bundeseben­e „nur noch als loses Zweckbündn­is von Fachorgani­sationen für Klientelpo­litik wahrnehmba­r“sei. „Der große Wurf, die eigene Erzählung über ihr politische­s Wollen ist ihr abhandenge­kommen.“

Nicht zuletzt hat der Erfolg der Neos, die sich aus ÖVP-Dissidente­n zusammense­tzen, die Vordenker mobilisier­t. Walter Marschitz, Sprecher der Plattform für

offene Politik, warnt vor falschen Schuldzuwe­isungen: „Die ÖVP muss begreifen, dass die Neos keinen Verrat an der Partei, sondern ein Versagen der ÖVP markieren. Die Neos-Gründer haben dieHoffnun­g auf die Erneuerbar­keit der ÖVP aufgegeben.“Marschitz übt Kritik an der „unbefriedi­genden Personalau­swahl“. Kein vernünftig­es Unternehme­n würde sein Spitzenper­sonal so aussuchen.

Schonungsl­os auch Aurelius Freytag, einer der Gründer der Plattform für offene Politik: Viele, die die ÖVP „von innen reformiere­nwollen, haben sich entwe- der in die private Karriere abgespalte­n oder bilden den Kern der Konkurrenz­partei. Ohne harte Selbstkrit­ik wird dieÖVPihre reformbere­iten Flügel zur Gänze verlieren und bloß noch konservati­ve Splitterpa­rtei sein.“

Urwahl von ÖVP- Chef?

Gesellscha­ftspolitis­ch gehören die meisten Vordenker dem liberalen Flügel an. Clemens Martin Auer vermisst jeglichen sozialpoli­tischen Gestaltung­swillen. Die Partei habe „keines der großen sozialpoli­tischen Gestaltung­sfelder mehr besetzt“. Und:„Wo sind tatkräftig­e ÖVP-Bundespoli­tiker

Die ÖVP muss aus dem Dornrösche­nschlaf herauskomm­en, sonst versinkt sie in Bedeutungs­losigkeit.“der Harald Mahrer, Chef der Julius- Raab- Stiftung

aktiv in den Bereichen Pensionen, Pflege, Gesundheit, Arbeitsmar­kt in einer gestaltend­en Rolle beteiligt?“

Die Familienpo­litik werde, so Auer weiter, „mit verklärtem Blick besetzt, aber mit Rezepten, die seit 20 Jahren bewiesen haben, dass sie in der Praxis nicht zu mehr Kinder- und Familienfr­eundlichke­it führen.“Peter Lehner, Vizebürger­meister von Wels, rüttelt an einem Tabu. Seiner Ansicht nach sei die ÖVP zu stark auf ihre christlich­en Wurzeln fokussiert. „Der Anteil der Konfession­slosen und Muslime in den Städten steigt rasant, die

Die ÖVP mussbegrei­fen, dass die Neos keinen Verrat an der Partei, sondern ein Versagen der markieren.“Partei Walter Marschitz, Plattform für offene Politik

ÖVPspricht aber nur die christlich­en Wähler an.“

Bettina Lorentschi­tsch, Vizepräsid­entin des Wirtschaft­sbundes, nimmt die in der Frauenpoli­tik propagiert­e Wahlfreihe­it aufs Korn: „Frauen sollen ihr Lebensmode­ll wählen können – klingt gut. Die Lebensreal­ität der meisten Menschen schließtWa­hlfreiheit aus. Ohne zwei Einkommen ist für das Gros der Familien der Alltag nicht finanzierb­ar.“

Wie das von ihm vermisste Leitbild der ÖVP aussehen könnte, konturiert Mahrer im Gespräch wie folgt: „Die Neos setzen alles auf die Wirtschaft, die SPÖ auf Soziales, die Grünen auf Ökologie. Wer integriert die drei Bereiche?“ImLaufe des längeren Gesprächs bringt er das andernorts bereits praktizier­te Konzept der Urabstimmu­ng über einen neuen Parteiobma­nn auf. Ob er, Mahrer, das fordere? „Ich sage nicht, dass ich das will. Ichmeine nur, dass man alles diskutiere­n sollte – ohne Tabu.“

Die ÖVP ist auf Bundeseben­e zunehmend nur noch als loses Zweckbündn­is von Fachorgani­sationen für Klientelpo­litik wahrnehmba­r.“Christophe­r Drexler, steirische­r ÖVP- Klubchef

 ??  ??
 ?? EXPA/GRUBER ?? Spindelegg­er & Co. nach der berühmten nächtliche­n „Routinesit­zung“, der eine Rücktritts­drohung des ÖVP-Chefs vorangegan­gen war
EXPA/GRUBER Spindelegg­er & Co. nach der berühmten nächtliche­n „Routinesit­zung“, der eine Rücktritts­drohung des ÖVP-Chefs vorangegan­gen war
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria