Konsumgesellschaft ohne Lebenssinn?
Religiöse Feste sind zweifellos ein Anlass, sich zu fragen, inwieweit Österreich noch ein katholisches Land ist und religiöse Grundwerte für die Menschen eine Rolle spielen. Dazu können sicherlich nicht nur Theologen, sondern auch Soziologen etwas sagen. Mein Kollege Manfred Prisching hat in einem Interview in dieser Zeitung dazu einige pointierte Antworten gegeben. So stellte er u. a. fest, in weitgehend säkularisierten Gesellschaften wie jenen Europas sei „die Sinnkomponente ohnehin nur noch eineAngelegenheit von Minderheiten“und weiter: „Traditionelle Werte des späten 19. Jahrhunderts wie Bescheidenheit, Zufriedenheit, Sparsamkeit sind ja Werte, mit denen eine wachsende, dynamische Wirtschaft nichts anfangen kann.“Mit Aussagen dieser Art stellt er sich in eine Reihe mit konservativen deutschen Sozialtheoretikern wie Helmut Schelsky, E. NoelleNeumann, Ulrich Beck und anderen, die einenWerteverfall diagnostiziert haben. Eine konservativ orientierte Theorie muss keineswegs falsch sein. Die Thesen vom Werteverfall sind empirisch aber eindeutig unhaltbar.
In dem von mir initiierten, seit 1986 bereitsdreimaldurchgeführtenösterreichischen „Sozialen Survey“fragten wir immer wieder nach den wichtigsten Lebensbereichen und einigen Grundwerten hierin. Es zeigte sich: Für die überwältigendeMehrheit stehen Familie und Kinderweiterhin an der Spitze, gefolgtvonArbeitundBeruf; FreizeithatzwaranBedeutung gewonnen, die Ersteren aber nicht ein- oder überholt; die Mehrheit wünscht sich immer noch zwei Kinder, hält sexuelle Treue in einer Partnerschaft für wichtig. Zahlreiche Eltern kümmern sich auch jahrzehntelang um schwerstbehinderte Kinder; der Großteil der pflegebedürftigen und hochbetagtenMenschen wird von Familienangehörigen versorgt. Dass eine „dynamischeWirtschaft“Menschen brauche, die sagen: „Ich will alles und jetzt“, dürfte bei all jenen Leserinnen und Lesernwohl nur ein müdes Lächeln erzeugen, die als Alleinstehende mitweniger als 1000 Euro imMonat oder als Haushalte mitweniger als 2000 Euro auskommen müssen. Trotzdem sagen gut 80 Prozent aller ÖsterreicherInnen, sie seien mit ihrem Leben im Großen und Ganzen zufrieden. ine Diagnose, die den meistenMenschen heute einen fehlenden Sinnbezug attestiert, ist auch aus anderen Perspektiven zu hinterfragen. Religiöse Säkularisierung muss keineswegs zu einer generellen Sinnentleerung führen. Auch das Projekt „Weltethos“des Theologen Hans Küng würde auf schwachen Beinen stehen, dessen Essenz ja darin besteht, jene gemeinsamen humanen Grundwerte herauszudestillieren, die nicht nur allen Weltreligionen, sondern auch allen nichtgläubigen verantwortungsbewussten Menschen gemeinsam sind.
ist Professor für Soziologie an der Universität Graz.
EMax Haller