Auf der Flucht vor demGrauen
Mit unfassbarer Brutalität geht der IS gegenAndersgläubige vor. 1,7 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Lokalaugenschein bei den Christen im Nordirak.
Khalid Zaki ist Schauspiellehrer. Vor einigen Monaten inszenierte der 35-Jährige noch in einem Theater in Karakosh Shakespeares „KaufmannvonVenedig“. Heute ist er einer von schätzungsweise 100.000 arabischen Christen, die in Erbil und Umgebung Schutz vor der brutalen Gewalt der Gotteskrieger des „Islamischen Staats“(IS) suchen. In der Nacht des 7. August flüchtete er mit seiner Familie aus dem 80 Kilometer entfernten Karakosh in die nordirakischen Kurdengebiete.
Nazar Hana, Manager der Nishtiman Mall, eines Megabaus, der einmal ein Büro- und Einkaufszentrum hätte werden sollen, erklärte sich bereit, einen Teil der 40.000 christlichen Araber aus Karakosh – bis zu jenem Zeitpunkt die größte christliche Gemeinde des Iraks – in dem nur teilweise fertiggestellten Gebäude aufzunehmen. Heute schlafen auf dem teuren Marmorboden in den leer stehenden Büros die Männer aus Karakosh – nur für Frauen und Kinder gibt es Matratzen.
Die 1100 Flüchtlinge in der Nishtiman Mall haben ein Dach über dem Kopf und werden – mit Ausnahme von Medikamenten – gut versorgt. Mitunter haben die einzelnen Zimmer sogar Klimaanlagen, die bei Tagestemperaturen bei bis zu 47 Grad eine Lebensnotwendigkeit sind. Damit geht es ihnen besser als vielen anderen Vertriebenen in den rund 23 Flüchtlingslagern in der Stadt und Umgebung, die in Zelten hausen. Dies ist jedoch ein schwacherTrost für dieMenschen aus Karakosh, die in den jüngsten Angriffen nur einen weiteren Akt der anhaltenden Vertreibung aller Christen aus dem Irak sehen. Laut einigen Flüchtlingen befinden sich nur mehr 120 Christen in Karakosh, die der „Islamische Staat“alsNachbarschaftswachen einsetzt.
Die Kinder sind tot
Bei einer Tasse Chai schildert Khalid Zaki die letzten 24 Stunden in der Stadt: „Am 6. August in der Früh versprachen uns die kurdischen Peschmerga-Kämpfer, sie würden uns verteidigen. Wir glaubten ihnen, als die Ge- fechte begannen.“IS-Milizen beschossen die Stadt mit Artillerie. Es gab bald die ersten Opfer. Weinend erzählt der 27-jährige Kaleed Kackwani, der neben Khalid auf dem Marmorboden Platz genommen hat, wie die Kinder seines Nachbarn im Garten spielten, als eine Granate einschlug und zwei zwölfjährige Buben und ein zehnjähriges Mädchen tötete: „Einer der beiden Buben wurde von der Granate in Stücke zerrissen. Die Familie fand nur einen Arm und ein Bein und legten die Überreste in eine Nylontasche.“Panik machte sich breit.
Auf der Stelle weg
„Um 17 Uhr versammelte sich die Gemeinde zum Begräbnis der Kinder“, berichtet Khalid weiter. „Dann feierten wir gemeinsam die Messe in der Kirche der heiligen Maria. Nach derMesse ging ich heim zu meiner Familie.“Morgens um drei Uhr erfuhr Khalid, dass die Peschmerga die Verteidigung der Stadt aufgeben und sie so schnell wie möglich wegmüssten. Die IS-Kämpfer würden bald hier sein.