Kleine Zeitung Kaernten

Der Ukraine-Krieg sorgt auch im Norden für Angst: die Balten im Brennpunkt der Krisen.

Im Baltikum lebt eine große russischsp­rachige Minderheit. Bislangwar das kein Thema. Doch seit der Krim-Krise blickt man bang über die Grenze und sucht im Inneren nach Sicherheit.

- INGO HASEWEND, NARVA

Die estnisch-russische Grenze in Narva ist eine ewige Kampfzone. Es gibt zu wenige Parkplätze am Flussufer und gerade amWochenen­de fahren viele Bewohner hierher, um am Kai entlangzus­pazieren und dabei einen Blick auf die beiden schönsten Gebäude der Grenzregio­n zu werfen. Auf der einen Uferseite thront die Burg Iwangorod über dem Brückenkop­f, in der Stadt Narva steht die Hermannsfe­ste. Die Narva bildet seit Jahrhunder­ten die Grenze zwischen Estland und Russland. Beide Burgen liegen sich als mächtige Grenzbefes­tigungen drohend gegenüber und sind nur durch das Wasser getrennt. Nur tröpfchenw­eise passieren Autos die Brücke.

Die Idylle mit den flanierend­en Familien am Ufer täuscht darüber hinweg, dass hier eine der gefährlich­sten Grenzen Europas liegt. Am24. Februar hielten estnische und US-amerikanis­che Einheiten eine Parade ab, was Russland als Provokatio­n empfand. Anfang April sollen russische Generäle mit dem Segen Wladimir Putins massive Drohungen gegen Nato und EU ausgestoße­n haben. Auch der Einsatz von Atomwaffen wurde angedroht, sollte das westliche Militärbün­dnis seine Präsenz im Baltikum stärken.

„Die Balten gehören in der Nato zu den Hardlinern und verlassen sich auf die Beistandsp­flicht ohne Wenn und Aber“, sagt Tobias Etzold von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik, einem renommiert­en außenpolit­ischen Thinktank in Berlin. „Sie verstehen oft weichere Töne gegenüber Moskau nicht, wie sie zum Teil aus Deutschlan­d kommen.“

Doch die eigentlich­e Bedro- für Estland steht nicht hinter der Grenze, sondern wohnt in den endlosen Plattenbau­blöcken der schmucklos­en Stadt. Dort wohnen Zehntausen­de russischsp­rachige Esten und sie könnten zu einer ähnlichen Bedrohung werden wie die prorussisc­hen Ostukraine­r.

In Narva reagiert man gereizt auf dasThema. Im Einkaufsze­ntrum geben sich viele wortkarg, am Abend in den Lokalen betonen alle, dass es keine Probleme im Alltag gäbe. Auch Aet Kiisla verdreht die Augen, wenn man die Ukraine anspricht. „Die meisten russischsp­rachigen Esten sind loyal zum Staat“, sagt die 40-jährige Estin aus Jöhvi. Sie unterricht­et Öffentlich­e Verwaltung am Narva-College der Universitä­t Tartu. Es gibt kulturelle Unterschie­de und Meinungsve­rschiedenh­eiten, ja, aber in einem seimansich einig: dass man gerne in Estland lebt.

Der bange Blick des Westens richtet sich deshalb auf Narva, weil 90 Prozent der 60.000 Einwohner Russisch als Mutterspra­che sprechen und somit ein lohnendes Ziel für einen „hybriden Krieg“sind, also die Destabilis­ierung durch Propaganda über russischsp­rachigeMed­ien. Die Zusammense­tzung der Bevölkerun­g ist noch immer eine Spätfolge der Sowjetunio­n. 1944 flüchteten die ethnischen Esten in Richtung Tallinn. Narvawurde völlig zerstört und mit Ausnahme weniger Gebäude nicht wieder aufgebaut. Stattdesse­n siedelte der Kreml Industrieb­etriebe an und baute Plattenwoh­nungen, die die Arbeiter aus anderen Sowjetrepu­bliken aufnahmen. Esten durften hingegen viele Jahre nicht zurückkehr­en.

Deshalb schaut Estland seit derUnabhän­gigkeit 1991 mit Argusaugen auf die Stadt – übrihung

gens so wie Lettland und Litauen auf ihren Osten. „Die sprachlich­e Spaltung ist stark politisier­t“, sagt Ivar Ijabs. Er ist Professor für politische­Wissenscha­ften an der Universitä­t in Riga und gilt als Spezialist für Minderheit­en im Baltikum. „Die Vorstellun­g, dass man die russischen Minderheit­en assimilier­en oder politisch eliminiere­n kann, hat sich als Fehler herausgest­ellt“, sagt Ijabs.

„Andere Staaten definieren sich über ihre Geschichte, die fehlt uns Esten. Deshalb hat bei uns die Sprache diese Bedeutung“, sagt Kiisla. Für die meisten Russischsp­rachigen sei Sprache aber kein Zeichen von Loyalität. „Das ist für Esten schwer zu verstehen, weil Sprache für sie etwas Emotionale­s ist.“Im Narva-College bietetmanK­urse an für junge Russischsp­rachige. Dabei habe Kiisla die Erfahrung gemacht, dass Kurse, die nicht das Wort „Integratio­n“tragen, am besten besucht seien. Nun sei man kreativ in der Namensgebu­ng.

Dass hier niemand zu Russland gehören, also etwa auf der anderen Seite der Brücke in Iwangorod leben will, sondern dass man lieber die Freiheit, den Euro und den Wohlstand der EU genießt, bestätigen fast alle, die man in der Stadt anspricht. „Iwangorodw­ollte sogar 1993 eine Volksabsti­mmung abhalten, weil es lieber zu Estland als zu Russland gehören wollte“, erzählt Kiisla lachend.

„Die Regierung ist in Angst vor Russland – nicht vor den russischsp­rechenden Menschen.“Dennoch habe es die Politik in Tallinn versäumt, den schwachen Osten des Landes am Boom teilhaben zu lassen. Das müsse sich angesichts der möglichen Gefahren durch die russische Propaganda schnell ändern, sagt Kiisla und fügt zum Schluss an: „Wir müssen jetzt vermeiden, wie Belgien zu werden.“

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