ZEIT IM BUCH 100 Jahre Unerbittlichkeit
Bis in Putins Russland, schreibtOrlando Figes, wirke die Brutalität der Russischen Revolution noch nach: Der britische Starhistoriker seziert präzise die Ursachen des staatlichen Autoritarismus.
Siebzig Jahre Kommunismus“, schreibt Orlando Figes, „haben Russland ruiniert, und doch ist die autoritäre Staatstradition auf eine Art wiedererwacht, mit der man vor 20 Jahren nicht gerechnet hätte“: Präzise und detailgenau seziert der Historiker der britischen Birkbeck-Universität in der Folge, wie es dazu kam, dass sich der Autoritarismus der revolutionären Geschichte Sowjetrusslands blutig seine Breschen bis ins heu- te wieder aggressiv auftretende postsowjetische Russland schlug. Seine Grundthese: In der Sowjetunion sei die Revolution keine Ausnahmeerscheinung des Jahres 1917 gewesen, sondern ein fortdauernder Zustand, der ein ganzes Jahrhundert Geschichte und politisch-gesellschaftliche Entwicklung im Osten Europas geprägt habe. Entsprechend ehrgeizig Fides’ Ansatz: In „Hundert Jahre Revolution“beschreibt er einen Jahrzehnte übergreifenden revolutionären Prozess, der den Versuch einer anhaltenden gesellschaftlichen Umgestaltung beinhalte, der bis heute wirke. Trotz aller inneren Widersprüche, schreibt Figes, hätten sich die sowjetischen Staatschefs bis in die Spätphase der UdSSR in Lenins Tradition gesehen – mit dem Ziel, seine Revolution zur Vollendung zu bringen, eine kommunistische Gesellschaft zu erschaffen und einen neuen kollektivenMenschentyp. Spannend und stringent spannt Figes den Bogen von den quälenden und in ihren Ausmaßen immer wieder monströsen Grausamkeiten, Einschüchterungen, Deportationen undVerhaftungen unter Stalin zur apolitischen Haltung großer Teile der Bevölkerung in den Folgejahrzehnten. Auch wenn Figes inhaltlich die Sowjetgeschichte nicht neu erfindet, ist die Langzeitperspektive auf die wichtigsten Zäsuren doch erhellend für das Verständnis auch von PutinsRussland. Die Bereitschaft etwa, staatliche Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele zu akzeptieren, führt Figes auf die Prinzipien der Revolution zurück, deren Zwecken individuelle oder allgemein menschliche Bedürfnisse untergeordnetwurden. Auchwenn die Revolution selbst tot sei, schreibt Figes, lebe sie weiter im Geist all jener, die von diesem hundertjährigen Zyklus der Gewalt erfasst gewesen seien. NINA KOREN