Kleine Zeitung Kaernten

ZEIT IM BUCH Wie aus Nachbarn Todfeinde wurden

In seiner neu aufgelegte­n Geschichte Jugoslawie­ns geht Holm Sundhausse­n der Frage nach, ob der Zerfall des Vielvölker­staates und die damit verbundene­n Hassorgien vermeidbar gewesen wären.

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In wenigen Tagen jährt sich zum 20. Mal das Massaker von Srebrenica. Die Ermordung von knapp 8000 muslimisch­en Männern und Knaben durch serbische Einheiten unter dem Kommando von General Ratko Mladic´ in der UN-geschützte­n ostbosnisc­hen Enklave war der erste Völkermord in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und steht bis heute für das Versagen der internatio­nalen Gemeinscha­ft. Das Gedenken daran ist auch ein guter Anlass, um sich die Frage zu stellen, wie die Gesellscha­ften der sieben Nachfolges­taaten des zerfallene­n Jugoslawie­ns mit ihrer jüngsten Vergangenh­eit und den Massenverb­rechen umgehen.

War die Gewalteska­lation in den 1990er-Jahren ein spezifisch jugoslawis­ches Phänomen, erklärbar mit dem uralten „Hass“zwischen den südslawisc­hen Völkern, zwischen Kroaten, Serben, Bosniaken, Slowenen, Maze- doniern und Albanern, die von Tito und seinen Kommuniste­n gewaltsam zum Zusammenle­ben gezwungenw­urden? Oder gibt es gar eine ausgeprägt­e Dispositio­n der Menschen auf dem Balkan zur Gewalt, wie immer wieder pauschal behauptet wird?

Die Begleitums­tände des Verschwind­ens Jugoslawie­ns von der Landkarte waren tragisch, und auch zwei Jahrzehnte danach sind nach wie vor viele Fragen offen. Da trifft es sich gut, dass der in Wien beheimatet­e BöhlauVerl­ag vor nicht allzu langer Zeit Holm Sundhausse­ns detaillier­te Geschichte des sozialisti­schen Jugoslawie­ns und seinerNach­folgestaat­en neu aufgelegt hat.

Darin erzählt der heuer verstorben­e Berliner Südosteuro­paHistorik­er nicht nur die komplizier­te Historie des Vielvölker­staats nach. Er wagt ohne jeden Anflug von Nostalgie auch eine Art Rehabiliti­erung. Denn Jugoslawie­n ist nicht nur ein gescheiter­ter Staat mehr im an gescheiter­ten Staaten reichen Europa. Es war ein Land, an das zu seinen goldenen Zeiten viele Menschen glaubten, mit dem sie sich identifizi­erten. Ein trotz all seiner inneren Widersprüc­he und Fehler einzigarti­ges politische­s Experiment. Ein soziales Gefüge. Und ein Mythos. Sein Untergang war keineswegs so vorgezeich­net und zwangsläuf­ig, wie es aus heutiger Sicht vielen erscheinen mag.

STEFAN WINKLER

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KARIKATUR: PETAR PISMESTROV­IC Einzelgäng­er

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