Was nun, Herr Tsipras?
Die Griechen sagen mit großer Mehrheit Nein zum Angebot der Gläubiger. Den Euro oder die EU will aber eigentlich kaum jemand verlassen.
Mit überwältigenderMehrheit stellen sich die Griechen in der Volksabstimmung hinter ihren Premier Alexis Tsipras und gegen den Reformkurs der Europäer. Mit ihremVotum wird ein Bankrott des schuldengeplagten Landes allerdings immerwahrscheinlicher.
Triumph für den griechischen Premier Alexis Tsipras. Bei der Volksabstimmung am Sonntag haben seine Landsleute mit überwältigender Mehrheit das letzte Angebot der Gläubiger zurückgewiesen. Die Nein-Stimmen lagen bei 61 Prozent und erreichten in allen Wahlbezirken des Landes die Mehrheit. Mit Ja haben knapp 39 Prozent gestimmt. 9,8 Millionen Griechen waren aufgerufen, über Annahme oder Ablehnung weiterer Sparmaßnahmen und Reformen zu entscheiden, die Voraussetzung für neue Hilfskredite sind.
Ioannis Nikolaou war einer von ihnen. Er ist vielleicht nicht der erste Bürger, der an diesem Tag in Athen vor der Entscheidung über „Nai“oder „Ochi“steht. Aber er ist definitiv der erste Wähler, der an diesem Morgen das „Erste Modellgymnasium“im zentralen Athener Stadtbezirk Syntagma betritt, nur fünf Minuten entfernt vom griechischen Parlament. Es ist sieben Uhr, gerade haben die Wahllokale geöffnet. Ioannis Nikolaou hat Rachenkrebs, spricht mit schnarrender Stimme, als er sagt: „Natürlich habe ich mit Nein gestimmt.“
Sein Ehrgeiz, der Erste zu sein, führt Nikolaou vor die Kameras der Weltpresse, die sich in dem Gymnasium aufreihen. Der 59Jährige, ein stämmiger Mann mit weißem Vollbart, Jeans und TShirt, genießt es, für einen kurzen Moment im Scheinwerferlicht zu stehen, denn in seinem Privatleben läuft es schon seit sechs Jahren nicht mehr rund. „Als die Krise des Landes begann, hat auch meine privateKrise begonnen“, sagt er. Er ist Seemann von Beruf, hat in vielen Ländern Nordeuropas gearbeitet. „Dort habe ich gut verdient, bis ich arbeitslos und krank wurde. Danach ging es mit mir abwärts, genau wie mit unserem Land. Ich will jetzt, dass das aufhört.“
Überleben kann er nur, weil sein 22-jähriger Sohn als Paketbote 480 Euro verdient und ihn unterstützt, seit ihn seine Frau verlassen hat. „Wir schlafen auf Matratzen auf dem Boden und essen aus Konservenbüchsen.“
Aus all diesen Gründen hat Ioannis Nikolaou mit Nein gestimmt. „Schlimmer, als es ist, kann es nicht werden“, sagt er. „Wenn du gar nichts mehr hast, hast du auch keine Angst mehr.“
„ Schleichende Angst“
Sehr ähnlich reden viele Griechen in Athen, nachdem sie ihren Stimmzettel in die Wahlurnen geworfen haben. Als fiele eine Last von ihren Schultern, nachdem sie sich für das „Nein“entschieden haben. Wie Ioannis Nikolaou halten sie die Abstimmung nicht für ein Votum über Europa, nicht einmal über den Euro. Sie wollen nicht aus Europa aussteigen. Nicht aus dem Euro. Sie wissen auch, dass die früheren Regierungen schwere Fehler gemacht haben. Aber sie wollen nicht dafür büßen.
Doch im Grunde weiß niemand, was der Sieg desNein nun
bedeutet. Restaurantbesitzer sprechen von „schleichender Angst“ihrer Kunden. Die Straßen, sagen die Taxifahrer, seien leerer als sonst, weniger Autos, weniger Menschen. Die Schlangen vor den Geldautomaten, aus denen jeder Kontokartenbesitzer nur noch 50 Euro pro Tag ziehen kann, seien zwar wieder kürzer geworden, sagt einKunde: „Geld ist drin, aber wie lange noch?“
Vor allem die Älteren wissen genau, was sie Europa und dem Euro verdanken. Wer Athen vor 35 Jahren bereiste, erlebte eine in großen Teilen ärmlich wirkende Metropole am Rand Europas. Jetzt glitzert die Stadt trotz der Krise, die Straßen sind gut asphaltiert, es gibt im Zentrum viele Fußgängerzonen und prächtig renovierte Altstadtviertel wie die Plaka unterhalb der Akropolis. Hier wurde viel für die Touristen getan, die eine wichtige Stütze der griechischen Wirtschaft sind. Während die Griechen dem Votum entgegenzittern, sind die Tavernen und Souvenirshops in der Plaka voll.
„ Abstimmung über Euro“
„Den Menschen ist überhaupt nicht klar, was am Montag und Dienstag geschehen wird, wenn das Nein gewinnt“, sagt der 64jährige Textilunternehmer Jannis Alexiou in einem besseren Viertel imNorden Athens. Der grauhaarige, drahtige Kaufmann beschäftigt 70 Angestellte in seinen 14Niederlassungen in Hellas, denen er seit einerWoche keine Gehälter mehr zahlen kann. „Die meisten Leute verstehen nicht, dass dies eine Abstimmung über den Euro ist. Das Ziel der Regierung ist es, dass Griechenland aus dem Euro und der EU ausscheidet“, sagt er. „Wir haben es mit einer Regierung von unprofessionellen Politikern der extremen Linken und extremen Rechten zu tun, die mit dem Schicksal eines ganzen Landes spielen.“
Viele Unternehmer und Angehörige der oberen Mittelschicht haben ihr Bekenntnis zum Ja und die Warnung vor dem „falschen“Votum am Freitagabend auf einer Demonstration im Stadtzentrum zum Ausdruck gebracht – gleichzeitig mit dem „Nein“-Lager, das aber mit rund 30.000 etwa dreimal so viele Menschen auf die Straße brachte. Dort versammelten sich Rentner, denen man ihre Bezüge kürzte, entlassene Staatsangestellte – vor allem aber junge Leute. Studenten, Arbeitslose, Berufseinsteiger ohne echte Perspektive. Die Abstimmung hat nicht nur Klassenunterschiede, sie hat auch einen Generationenkonflikt zum Vorschein gebracht. „Ich stamme aus diesem Viertel“, sagt Rodi Kangelari, eine zierliche, junge Frau in einem Wahllokal im Problembezirk Agios Panteleimonas nahe dem Omonia-Platz im Zentrum Athens. Sie ist weggezogen, als dasViertel immer mehr kippte, als Drogendealer, Bordelle und Stripshow-Bars sich ausbreiteten und die rechtsradikale Partei Goldene Morgenröte hier regelmäßig aufmarschierte und die zahlreichen Flüchtlinge im Viertel dafür verantwortlich machte. „Aber verantwortlich sind in Wahrheit die Kapitalisten“, sagt Rodi Kangelari, die Drogensüchtige im Gefängnis betreut.
Die 36-Jährige und ihr gleichaltriger Freund Manos, ein Beiselwirt, haben mit Nein gestimmt, obwohl es ihnen wirtschaftlich vergleichsweise gut geht. Mit ihren Eltern haben die beiden viel gestritten in den letzten Tagen. „Sie sagen, es geht uns doch viel besser als vor dreißig Jahren oder als den Bulgaren. Das mag sein, sagen wir, aber wir messen uns nicht an denen, denen es schlechter geht. Darum geht es: Wir wollen freie Bürger der EUsein und nicht länger ausgepresst werden.“Aber was sie mit ihrem trotzigen Nein heraufbeschwören, das können sie nicht einschätzen. „Wir haben Angst“, sagtRodi Kangelari. „Aber wir wissen, dass es so nicht weitergehen kann.“