John, Harry und Baby 106
Der Psychologe John Gluck trat in den 1950er-Jahren eine Stelle am Primatenlabor der University of WisconsinMadison an. Weil sich die Lehrenden mit Vornamen anreden, nannte Gluck seinen Chef „Harry“. Harry Harlow war einer der bekanntesten Verhaltenspsychologen und Präsident der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie.
Berühmt sind Harlows Experimente zur Mutter-KindBeziehung von Rhesusaffen-Babys. Harlows Äffchen wurden gleich nach ihrer Geburt in einen Käfig gesetzt, in dem sich auch zwei Mutterattrappen befanden: eine aus Draht, bei der die Babyaffen Milch trinken konnten, eine andere, bei der es keine Milch gab, die aber mit dickem Stoff bespannt war. Die kleinen Rhesusaffen suchten die Ersatzmutter aus Draht nur kurz zur Nahrungsaufnahme auf, die ganze übrige Zeit kuschelten sie mit der weichen Stoffmutter. Harlow schloss daraus, dass körperlicher Kontakt in der frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehung auch für Menschen von großer Wichtigkeit sei, eine Tatsache, die durch psychoanalytische Forschungsarbeiten in Krankenund Waisenhäusern allerdings schon länger bekannt war.
Harlows Babyaffen hatten Nummern, keine Namen. Auf einem Videoclip über Harlow sieht man, wie er ein Äffchen aus einem Käfig nimmt und erklärt: „Das ist Baby 106“. Nummern erzeugen Distanz. Diese war notwendig, weil Harlows Affenexperimente immer brutaler wurden: Rhesusäffchen wurden mit Ersatzmüttern konfrontiert, die sie kräftig durchschüttelten oder aus denen scharfe Messingstacheln herausfuhren. Um menschliche Depressionen zu erforschen, wurden die Rhesusaffen bis zu einem Jahr in völliger Isolation gehalten, manche von ihnen in engen, stählernen „Fallgruben der Verzweiflung“. Die Auswirkungen auf die Tiere waren dramatisch, manche überlebten Harlows Foltermethoden nicht. is heute finden Affenexperimente wie diese statt. Doch gibt es Widerstand gegen den „militärisch-industriellenwissenschaftlichen Komplex“und seine Forschungsmethoden, zunehmend unter Wissenschaftlern selbst. Das gegenwärtig bedeutendste Beispiel ist John Gluck, der eingangs erwähnte ehemalige Schüler Harry Harlows. Professor Gluck hat einen im März dieses Jahres erschienenen Bericht des Oxford Centre for Animal Ethics mitunterzeichnet, der allen Tierversuchen aus wissenschaftlichen und ethischen Gründen eine strenge Absage erteilt. Er schreibt zudem an einem autobiographisch gefärbten Buch, das den Titel tragen wird: „Lernen, die Tiere wieder wahrzunehmen“.
Am Welttierschutztag am 4. Oktober sollte ein Wissenschaftler wie John Gluck gewürdigt werden. Wir alle können von ihm lernen.
„Nummern erzeugen Distanz. Diese Distanz war notwendig, weil die Affenexperimente immer brutaler wurden.“
BKurt Remele