Blaues Selfie-Fieber im roten Wien
SPÖ überdeckt unbequeme Debatte zum roten Filz oder zu Flüchtlingen mit der Zuspitzung: „Wollt ihr Häupl oder Strache im Rathaus?“
Autogramme haben wohl ausgedient bei der Jagd auf Promis. Als Heinz-Christian Strache umringt von Bodyguards und blauen Wahlhelfern gestern Nachmittag beim Simmeringer Straßenfest auftaucht, gibt es kein Weiterkommen mehr. Aberdutzende Selfie-Jäger stellen sich dem FPÖ-Chef in den Weg, sogar die Polizei muss einschreiten. Als Souvenir dient heute der gemeinsame Schnappschuss, der blaue Stift bleibt in Straches Tasche. Auch der aus New York gerade heimgekehrte Sebastian Kurz, ÖVP-Spitzenkandidat Manfred Juraczka, Neos-Chef Matthias Strolz oder der in roten Kernschichten populäre Stadtrat Michael Ludwig, einer der Favoriten auf die Häupl-Nachfolge, schauten in Simmering vorbei. Aber kein anderer Politiker löste im einst rotesten Wiener Gemeindebezirk einen solchen Wirbel aus wie Strache. Sehen so Sieger aus? ine Woche vor der Wahl prognostizieren fast alle Meinungsforscher ein Kopf-an-Kopf-Rennen, allerdings mit leichten Vorteilen für Bürgermeister Michael Häupl. In keiner einzigen Umfrage
Eliegt die FPÖ vorn. Einen Ausreißer bildet OGM-Chef Wolfgang Bachmayer, der im heutigen „Kurier“die SPÖ mit 38 Prozent deutlich vor der FPÖ mit 33 Prozent sieht. Bachmayers Vorhersagen über das Abschneiden der Freiheitlichen gelten als besonders zuverlässig. Bleibt in Wien doch alles beim Alten? Und Werner Faymann als SPÖ-Chef und Kanzler bis 2018 im Sattel? ie Flüchtlingskrise kommt der Wiener SPÖ sehr gelegen. Die Zuspitzung „Wollt ihr Häupl oder Strache als Bürgermeister?“deckt alles zu – etwa eine unbequeme Auseinandersetzung über den roten Wiener Filz, die die Neos bisher vergeblich anzetteln wollten, oder eine Debatte über die schlechten Wiener Wirtschaftsund Jobdaten, die die ÖVP anreißen wollte, oder eine Diskussion über die Verkehrspolitik, wo die Grüne Maria Vassilakou zur Freude ihrer Klientel klare Konturen gezeigt hat. ie Verlierer der Zuspitzung sind die drei Kleinparteien, ÖVP, Grüne, Neos. Am größten ist die Panik in der Volkspartei, die in einer Woche ein einstelliges
DD(!) Ergebnis einfahren dürfte. Unter dem viel gescholtenen Erhard Busek kam man 1983 noch auf 35 Prozent. Schon vor der Oberösterreich-Wahl hat Reinhold Mitterlehner aus nackter Angst in der Flüchtlingsfrage die Ruder herumgerissen. Gestern wurden die Vorschläge zu Asyl auf Zeit und zum Familiennachzug nachgeschärft. iemand weiß, welche Dynamik die Flüchtlingskrise bis zum Wahlsonntag noch entfachen wird, ob Berlin die Grenzen schließt und Österreich im Osten und Süden dann nachziehen müsste oder ob sich die Flüchtlingsströme von Nickelsdorf nach Spielfeld verlagern. Die
NSPÖ turnt sich über das Thema autosuggestiv hinweg. Mantraartig wird behauptet, die Stadt Wien habe alle zugeteilten Flüchtlinge ordentlich untergebracht. Warum sollten wir abgestraft werden? Dass der Wiener Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik nach einer peniblen Auswertung der oberösterreichischen Ergebnisse zum Schluss kam, die FPÖ habe im Land ob der Enns in allen Gemeinden gleich stark gewonnen, egal, ob dort Flüchtlinge untergebracht sind oder nicht, wird als oberösterreichisches Spezifikum vom Tisch gewischt. Kanzler Werner Faymann steht im telefonischen Dauerkontakt mit Angela