Ein Europa ohne Zäune? Das Ende eines Traumes
Begrenzen statt begrüßen lautet die neue Devise.
Die Erkenntnis mag für einige bitter sein, für den größeren Teil der Bevölkerung tröstlich: Ein zweites Sommermärchen wird und kann sich Europa nicht leisten. Das Anschwellen der Flüchtlingsströme mündete in einen beispiellosen Kraftakt der Zivilgesellschaft, die in den Flüchtlingen die „edle Wilden“zu entdecken schien und unter Verzicht auf jegliche staatliche Alimentierung die Vertriebenen mit offenen Armen empfangen hat. Wo die Willkommenskultur besonders ausgeprägt war, in Österreich, Deutschland, Schweden, Dänemark, ist die Stimmung gekippt. 1,5 Millionen Syrer, Iraker, Afghanen haben heuer bereits europäischen Boden betreten, zumeist unregistriert, unkontrolliert. Derzeit hält sich der Ansturm nicht nur wegen des Winters in Grenzen, auch die Türken tragen dazu bei.
Die Regierungschefs jener Länder, die sich besonders großzügig erwiesen haben, beschäftigte beim EU-Gipfel nur eine Sache: Wie kann man im Frühjahr eine neue Eruption verhindern? Eine Welle womöglich noch größeren Ausmaßes würde die wenigen Empfänger- und Transitländer überfordern und die Bevölkerung gegen die Politik aufbringen. Der Paradigmenwechsel ist offenkundig. Vor wenigen Wochen wurde auf EU-Ebene nur an den Hotspots, den Registrierzentren herumgefeilt, nun wird alles von der Debatte über einen robusteren Schutz der Außengrenze und eine unmoralische Kooperation mit der Türkei überlagert. Begrenzen statt begrüßen lautet die Devise. An die Stelle des Willkommenspakets tritt der imaginäre Stacheldraht in der Ägäis. Willkommen in der Realpolitik Kissinger’schen Zuschnitts.
Ob das Vorhaben gelingt, ist fraglich. Die Zeit drängt, und die EU ist für die Mammutaufgabe in keiner Weise gerüstet. Die Kakofonie von 28 Regierungen mit unterschiedlichen Prioritäten verkompliziert das Bemühen. Scheitert das Vorhaben, werden dann überall die Zäune in die Höhe schießen? an muss die Dinge beim Namen nennen, pflegt Außenminister Kurz zu sagen: Ein Europa ohne Zäune ist genauso illusorisch wie ein Europa ohne Flüchtlinge. Wolfgang Schäuble sieht in der Krise „Europas Rendezvous mit der Globalisierung“. Der Deal mit Ankara sieht denn auch vor, dass Europa nicht den Orbán’schen Weg der Komplettabschottung geht, sondern im Gegenzug Kontingente aus der Türkei übernimmt. 300.000 auf ganz Europa verteilt wären ein Fortschritt – im Vergleich zu den 1,5 Millionen auf wenige Länder verteilt. Die Chance, dass das gelingt, ist leider gering.
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