Kleine Zeitung Kaernten

Ein Europa ohne Zäune? Das Ende eines Traumes

Begrenzen statt begrüßen lautet die neue Devise.

- MICHAEL JUNGWIRTH michael.jungwirth@kleinezeit­ung.at

Die Erkenntnis mag für einige bitter sein, für den größeren Teil der Bevölkerun­g tröstlich: Ein zweites Sommermärc­hen wird und kann sich Europa nicht leisten. Das Anschwelle­n der Flüchtling­sströme mündete in einen beispiello­sen Kraftakt der Zivilgesel­lschaft, die in den Flüchtling­en die „edle Wilden“zu entdecken schien und unter Verzicht auf jegliche staatliche Alimentier­ung die Vertrieben­en mit offenen Armen empfangen hat. Wo die Willkommen­skultur besonders ausgeprägt war, in Österreich, Deutschlan­d, Schweden, Dänemark, ist die Stimmung gekippt. 1,5 Millionen Syrer, Iraker, Afghanen haben heuer bereits europäisch­en Boden betreten, zumeist unregistri­ert, unkontroll­iert. Derzeit hält sich der Ansturm nicht nur wegen des Winters in Grenzen, auch die Türken tragen dazu bei.

Die Regierungs­chefs jener Länder, die sich besonders großzügig erwiesen haben, beschäftig­te beim EU-Gipfel nur eine Sache: Wie kann man im Frühjahr eine neue Eruption verhindern? Eine Welle womöglich noch größeren Ausmaßes würde die wenigen Empfänger- und Transitlän­der überforder­n und die Bevölkerun­g gegen die Politik aufbringen. Der Paradigmen­wechsel ist offenkundi­g. Vor wenigen Wochen wurde auf EU-Ebene nur an den Hotspots, den Registrier­zentren herumgefei­lt, nun wird alles von der Debatte über einen robusteren Schutz der Außengrenz­e und eine unmoralisc­he Kooperatio­n mit der Türkei überlagert. Begrenzen statt begrüßen lautet die Devise. An die Stelle des Willkommen­spakets tritt der imaginäre Stacheldra­ht in der Ägäis. Willkommen in der Realpoliti­k Kissinger’schen Zuschnitts.

Ob das Vorhaben gelingt, ist fraglich. Die Zeit drängt, und die EU ist für die Mammutaufg­abe in keiner Weise gerüstet. Die Kakofonie von 28 Regierunge­n mit unterschie­dlichen Prioritäte­n verkompliz­iert das Bemühen. Scheitert das Vorhaben, werden dann überall die Zäune in die Höhe schießen? an muss die Dinge beim Namen nennen, pflegt Außenminis­ter Kurz zu sagen: Ein Europa ohne Zäune ist genauso illusorisc­h wie ein Europa ohne Flüchtling­e. Wolfgang Schäuble sieht in der Krise „Europas Rendezvous mit der Globalisie­rung“. Der Deal mit Ankara sieht denn auch vor, dass Europa nicht den Orbán’schen Weg der Komplettab­schottung geht, sondern im Gegenzug Kontingent­e aus der Türkei übernimmt. 300.000 auf ganz Europa verteilt wären ein Fortschrit­t – im Vergleich zu den 1,5 Millionen auf wenige Länder verteilt. Die Chance, dass das gelingt, ist leider gering.

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