Wenn Dämme brechen . . .
Der Respekt als soziales Schmiermittel scheint zunehmend an Schwindsucht zu leiden. Mit besorgniserregenden Folgen.
Natürlich kann man als gewählter Volksvertreter einen Regierungschef als „Staatsfeind“bezeichnen, sich über die „Bikinifigur“der ehemaligen Innenministerin lustig machen, einen Abgeordneten mit einem Krokodil – „große Pappn, kleines Hirn“– vergleichen, Mohammed einen „Kinderschänder“und eine Partei eine „Schlepperbande“nennen. Man kann sich gegenseitig als „Blutsauger“, „Kettenhund“, „Gauner“oder „Dreckschleuder“bezeichnen.
Kann man alles machen. Wurde auch alles gemacht. Ob man es machen darf, darüber urteilen in besonders exquisiten Fällen Gerichte, im politischen Alltag die Geschäftsordnung des Parlaments und im normalen Leben der gute Geschmack.
Letzterer ist zunehmend härteren Belastungstests ausgesetzt. Denn egal, ob im Hohen Haus oder Wirtshaus, am Arbeits- oder Fußballplatz, in Debatten oder bei Demonstrationen, unter Arbeitern oder Akademikern: Über- all scheint es zu einer Verrohung der Sitten zu kommen, zu einer Verlümmelung im Umgang mit dem Gegenüber. Überall scheint Akzeptanz für den oder das andere verloren zu gehen und sich Respektlosigkeit Bahn zu brechen. Es wird kühler.
Respekt ist relativ
Aber was ist das eigentlich, was sich da verflüchtigt? Was ist Respekt? Dem anderen Menschen Wertschätzung entgegenbringen, ihm Geltung zuzusprechen – definiert die Theorie.
In der Praxis reichen derartige wohlklingende und wenig konkrete Erklärungsphrasen freilich nicht. Hier gilt die alltagsbestimmende Relativierungsformel „Das kommt darauf an“. Denn Respekt ist nicht gleich Respekt. Wenn ältere Menschen klagen, dass der Jugend der Respekt fehlt, ist nicht selten Höflichkeit, manchmal auch ganz banal „Zeit für mich“gemeint. Wenn ein Vorgesetzter mehr Respekt einfordert, will er eigentlich Gehorsamkeit, wenn ein Lehrer Respekt von seinen Schülern verlangt, will er eigentlich Folgsamkeit. Wenn ein Staatsoberhaupt zu Respekt mahnt, fußt dieser moralische Weckruf auf dem Glauben an eine antike Autoritätspyramide.
Dieses „Wir sind Kaiser“-Verständnis von Respekt folgt einem strengen und leicht kalkulierbaren hierarchischen Prinzip: Ober sticht Unter, Groß dominiert Klein, der Mächtige den Machtlosen. Triebfeder für diese Art von Respekt ist meist Angst – frag nach beim Skifahrer, der vom „Respekt vor der Streif“spricht. Geht diese vertikale Form von Respekt verloren, endet es nicht selten fatal. Generationenkonflikt in der Familie, Mobbing im Job, schlechte Noten in der Schule, Verwahrlosung der Demokratie, Sturz im Steilhang: Respektverlust kann wehtun.
Respektlosigkeit kann aber auch cool sein. Vorantreiben.