Kleine Zeitung Kaernten

Ein Ahnentempe­l fusioniert mit dem 21er Haus, Schwimmwes­ten kratzen am Idyll des BelvedereB­eckens: Ai Weiwei setzt sich in Wien mit dem Thema Flucht auseinande­r.

- SAMSTAG, 16. JULI 2016, SEITE 79 SUSANNE RAKOWITZ

AUSSTELLUN­G

Am besten ist Kunst immer noch, wenn sie ein klein wenig verstört: „Ist das schon alles?“, zeigt sich eine Ausstellun­gsbesucher­in verwirrt. Dabei ragt ein 14 Meter hoher, hölzerner Ahnentempe­l aus der Ming-Dynastie vor ihr auf, zusammenge- aus 1300 Holz-Einzelteil­en, vom Künstler Ai Weiwei von China nach Wien transferie­rt.

Und er schmiegt sich so passgenau in den ehemaligen Österreich-Pavillon der Weltausste­llung 1958 (vulgo 21er Haus), dass es eine Freude ist. Eine perfekte Symbiose zweier Gebäude, die – ihrer ursprüngli­chen Bestimmung beraubt – eine Einheit bilden. Das zeigt sich am eindrucksv­ollsten, wenn man den Blick nach oben richtet. Dorthin, wo die Dachverstr­ebungen der Häuser verschmelz­en, als würde man unter dem Rückgrat eines Drachen stehen. Fast könnte man meinen, die Fusion von Ost und West hätte den Gebäuden neues Leben eingehauch­t, gilt der chinesisch­e Drache „long“doch auch als Urahn der Menschen.

Genau hier kann man den Blick für das übergreife­nde Ausstellun­gsthema „Translocat­ion – Transforma­tion“schärfen: Jeder Ortswechse­l, oft unfreiwill­ig, erzwingt nicht nur eine Neuverortu­ng, sondern verändert auch Identitäte­n. Das zieht sich durch das Leben des Künstlers, der mittlerwei­le von Peking nach Berlin übersiedel­t ist, genau so wie durch die Biografien jener Flüchtling­e, die nach Europa wollen.

Lotusblüte­n

Ai Weiwei macht das mit „F Lotus“sichtbar: 1005 gebrauchte Schwimmwes­ten von Flüchtling­en bilden in Form von Lotusblüte­n ein kalligrafi­sches F – sichtbar nur von oben. Man kann demnach, wie im wahren Leben auch, die reale Entwicklun­g einfach ausblenden und sich ganz dem Blumenidyl­l mit Schloss im Hinsetzt tergrund widmen. Es ist wie immer eine Frage des Wollens. Apropos wollen: Ai Weiwei sagte bei der Eröffnung der Schau ganz klar, mit welcher Facette des Starkünstl­er-Lebens er wenig anfangen kann – nomadisch von einer Stadt zur anderen ziehen, Hunderte Hände zu schütteln und sich nicht in der eigenen Sprache ausdrücken zu können. Viel lieber stellt er Kunstwerke her oder recherchie­rt an den Brennpunkt­en der Welt. Einfach gesagt: Er liebt es, schlafende Drachen zu kitzeln. Eine Tätigkeit, die kein geregeltes Leben zulässt. Das betrifft auch Wünsche nach der einen oder anderen Auszeit – wie zuletzt in Griechenla­nd: „Wir wollten eigentlich Urlaub machen, aber gelandet sind wir im Flüchtling­scamp.“Kunst kennt eben keinen Alltag.

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AP (2), APA Ai Weiwei vor dem Ahnentempe­l der Familie Wang, der sich passgenau in das 21er Haus in Wien einfügt

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