Ohne Werte bleibt nur die Fassade
Die EU ist unter Druck, ihr Wertekonsens ist brüchig geworden. Woran liegt das? Die Konferenz „Österreich 22“tastete sich virtuos durch die Zumutungen der Gegenwart.
W ährungsunion und Dublin-Schengen-System: Zwei große, zentrale Projekte der europäischen Einigung sind mehr oder minder außer Funktion. Was ist da los? Bietet die EU womöglich nur einen „SchönwetterRechtsrahmen“, der nicht mehr funktioniert, wenn Schlechtwetter aufzieht?
Diese provokante These befeuerte am Freitag die Zukunftskonferenz „Österreich 22“in Graz. Womöglich haben wir die EU-Gemeinschaftsprojekte zu rasch umgesetzt, und jetzt scheitern wir an diesem Ehrgeiz. So sieht es der frühere deutsche Verfassungsrichter Udo di Fabio. Denn die westliche Gesellschaft gründe nicht auf Sozialtechnik von oben, sondern auf Freiheit von unten.
„Wir können die Struktur einer Gesellschaft nicht vollstän- dig politisch vorgeben“, warnt der Jurist. Das sei die Konsequenz der individuellen Freiheit. Man könne zwar fordern, dass der Einzelne Verantwortung trägt und konstruktiv am politischen Leben teilnimmt, aber wenn er sich weigert, wird es schwer. Eines dürfe nämlich nicht sein: „Dass diejenigen, die die Interpretationsmacht besitzen, den anderen sagen, was sie denken sollen.“
Überhaupt müsse die EU die innenpolitischen Primärbedürfnisse ihrer Mitgliedstaaten respektieren: „Wir müssen uns ehrlicher machen, sonst wird die EU zu einer byzantinischen Fassade.“Ein aktuelles Beispiel: „Sozialtechnische Vorstellungen, wir könnten Migranten nach einem festen Schlüssel verteilen, sind nicht durchsetzbar. Das wäre ein Mehrheitsbeschaffungsprogramm für Rechtspopulisten.“Di Fabio wünscht sich das Aushalten von