Gründonnerstag: Carlo Petrini über das Mahl.
OSTERSERIE: In den Kartagen durchbrechen wir die gewohnte Ordnung der Zeitung. Am heutigen Gründonnerstag fragen wir nach dem Sinn des Mahls. GRÜNDONNERSTAG. Slow-Food-Gründer Carlo Petrini über Ernährung als gesellschaftlichen Kitt und Völlereien zu Ost
S ie stammen aus einer Familie mit katholischer Mutter und kommunistischem Vater. Begegneten sich diese beiden Kulturen auch bei Tisch?
CARLO PETRINI: Meine Eltern waren beide Proletarier und aßen dieselben Sachen. Die Ernährung in der Nachkriegszeit war einfach: Pasta, Minestrone, wenig Fleisch, an Festtagen vielleicht Käse oder Milchreis. Es gab wenig, aber das war gesund und gut. Das italienische Institut für Ernährung hat festgestellt, dass sich die Italiener in den Nachkriegsjahren am besten ernährt haben.
Warum ist Ernährung mehr als Nahrungsaufnahme?
In der Menschheitsgeschichte war das Teilen der Mahlzeit immer schon einer der wichtigsten Aspekte. In den Familien wurde das Essen geteilt, im religiösen Leben, etwa in Klöstern oder auch am Arbeitsplatz. In der ganzen Welt gilt der Grundsatz, dass man nicht alleine isst, sondern gemeinsam. Das Essen stärkt die Gemeinschaft, in Europa wie in Afrika.
Warum?
Teilen stärkt das soziale Gefüge. Man kennt das doch von den großen Festen: Hochzeitsessen, Ostern, Weihnachten, sogar vor der Rekru- zum Militär wurden große, gemeinschaftliche Mahlzeiten veranstaltet. Essen hat eine soziale Kraft. Alleine essen ist nicht gut, das macht traurig.
Ich muss gestehen, ich habe heute Mittag alleine gespeist ...
Manchmal ist das ja in Ordnung. Auf Reisen gehe ich auch gerne alleine ins Restaurant. Aber dann schaue ich mir die anderen Tische an und die Leute. Zu Hause alleine essen ist traurig.
Unsere Gesellschaft wird immer individualistischer. Gilt das auch fürs Essen?
Ich sehe ehrlich gesagt viele junge Leute, die gemeinsam zum Essen gehen. Vielleicht sogar bei McDonald’s. Warum denn nicht? Für uns Italiener sind Mittag- und Abendessen als Moment der Kollektivität heilig. Da kommt man nicht zu spät!
Sie heißen Mahlzeiten bei McDonald’s gut? Slow Food entstand doch 1986 aus der Opposition gegen die Eröffnung des ersten Fast-FoodLokals in Rom!
Ich rede ja nicht darüber, wie man bei McDonald’s isst. Aber der Konzern hat dieses Element der Kollektivität genau durchschaut. Da gibt es Kinderspielplätze in den Lokalen, die Kleinen haben Spaß. In vielen Restaurants sind Kinder nicht willkommen und werden schlecht behandelt. Das eine ist der soziale Aspekt, das andere die Qualität des Essens.
Täusche ich mich, oder kauen Sie gerade etwas?
Ja, ich esse ein kleines Schokoladenosterei.
Zu Ostern kaufen die meisten Menschen groß im Supermarkt ein. Was verraten die immer größeren Märkte über uns?
Im Supermarkt gibt es wenig Kommunikation und wenig Menschlichkeit. Der Verkäufer im Tante-Emma-Laden sprach mit dir, wusste von deinen Wünschen, merkte sich, wenn etwas schlecht war. Heute kaufen wir in Nicht-Orten ein. Sie sind überall gleich. Nicht die Ware steht im Vordergrund, sondern die Quadratmeter der Verkaufsfläche. Ich beobachtierung te aber, dass sich das Fehlen dieser menschlichen Dimension bemerkbar macht. Der Trend geht zurück zum Krämerladen.
Woran machen Sie das fest?
Das sind natürlich nicht die gleichen Läden wie vor 50 Jahren. Aber der Geist ist ähnlich. Es wird mehr Wert auf lokale Produkte gelegt. Junge Menschen eröffnen Geschäfte, in denen auch gesprochen, diskutiert und erzogen werden soll. Etwa kleine Lebensmittelgeschäfte, Weinhandlungen, in denen die Weine von den Produzenten selbst vorgestellt werden und in denen Bücher verkauft werden. Unser größter Hunger ist nicht der auf Nahrung, sondern der auf Wissen über die Nahrungsmittel.
Zum Beispiel ihre Herkunft?
Herkunft, Herstellung, Verarbeitung, Behandlung. Diese Informationen bekommt man im Supermarkt nicht ausreichend. Es ist auch kein Zufall, dass die Bauernmärkte so zugenommen haben. Da verkaufen die Bauern selbst ihre Produkte und sprechen darüber. Das ist ganz anders als ein anonymer Einkauf.
Slow Food nennt seine lokalen Gemeinschaften „convivia“. Was hat es damit auf sich?
Für die alten Römer war das convivium nicht nur ein Ort des Essens, sondern auch des Austauschs, des Philosophieren, des Gesprächs. In Griechenland sagte man Symposion dazu. Essen bedeutet nicht dasselbe, wie ein Auto vollzutanken. Das ist eine viel um- Angelegenheit. Essen bedeutet: am Tisch sitzen, sich in die Augen sehen, das Essen anschauen. So werden Freundschaften gestärkt, so wird Wissen ausgetauscht. Essen ist ein sozialer Akt.
Im Alten Rom arteten die convivia oft in Orgien aus ...
Es gibt auch heute Leute, die es übertreiben. Schauen Sie einmal, wie viel manche trinken, wenn sie zusammen sind oder wie ungesund sie essen!
Ich lebe seit einigen Jahren in Italien und wundere mich immer noch, wie viel die Italiener übers Essen sprechen. Warum?
Das liegt an unserer gastronomischen Tradition. Wir haben eine starke bäuerliche Kultur, in der bedeutet essen: leben. Bei uns hat Ernährung fast schon einen sakralen Charakter und ist nicht nur Treibstoff. Wir halten inne, diskutieren, tauschen uns aus. Wir sind uns in gewisser Weise bewusst, dass ein ganzer Kosmos hinter jedem Nahrungsmittel steckt.
Was meinen Sie damit?
Na ja, es sind eben nicht nur Weintrauben oder Gorgonzola, sondern dahinter stecken Menschen, die etwas dafür getan haben, dass die Lebensmittel auf den Tisch kommen. Der Sinn für ihre Entstehung und Verarbeitung macht Lebensmittel wertvoller.
Warum ist es wichtig, zu wissen, was hinter dem Produkt steckt?
Wir wollen doch alle wissen, woher das Fleisch für die Safassendere lami stammt, ob es behandelt wurde, wie es verarbeitet wurde, ob Farbstoffe, Geschmacksverstärker oder Konservierungsstoffe beigegeben wurden. Welche Folgen haben diese Beigaben für unsere Gesundheit? Selbst wenn diese Dinge erlaubt sind, will ich sie kennen!
Um dann zu entscheiden, ob man die Produkte kauft oder nicht?
Genau. Ich will wissen, ob natürliche Aromen beigegeben wurden oder künstliche, die letztendlich aus Erdöl hergestellt wurden. Ich will wissen, ob es sich um genmanipulierte Produkte handelt. Auch deshalb müssen wir viel mehr bei Tisch miteinander reden!
Nun ist Ostern und wir kaufen die Supermärkte leer. Warum dieses Bedürfnis nach Fülle?
Das ist ein anthropologisches Erbe aus den Zeiten, in denen unsere Vorfahren hungerten. Nur stimmt es nicht, dass in der Masse der Genuss liegt. Wir sind heute doch viel zu dick! Der Genuss liegt darin, gute Sachen zu essen und nicht viele. Wir sollten unseren Körper nicht wie ein dehnbares Gummiband behandeln. Erst völlern, dann joggen oder zum Diätberater gehen. Die verdienen heutzutage mehr als die Bauern. Das ist doch absurd!