Einstürzende Altbauten
Nach der Scheidung ist vor der Scheidung: SPÖ und ÖVP behelligen das Publikum mit der Schuldfrage und treiben hohen manipulativen Aufwand. Versuch einer Klärung.
Man kennt das von Geschiedenen. Nach der Scheidung ist vor der Scheidung, denn es beginnt der Kampf um die Deutungshoheit in der Kommunikation nach außen. Beide Seiten buhlen im persönlichen Umfeld um Verständnis für die jeweils eigene zurechtgeschminkte Rolle. Es geht um Selbstentlastung und die Auslagerung von Verantwortung. Es sind Werbekampagnen mit beschränktem Unterhaltungswert für das Publikum.
Ähnlich gebärden sich die getrennten Partner der Regierung. Beide, SPÖ wie ÖVP, weisen dem jeweils anderen die Schuld an Trennung und Neuwahl zu. Christian Kern flunkert in seiner Erzählung, er habe die Arbeit und nichts als die Arbeit im Sinn gehabt. Leider sei er durch den überschüssigen Ehrgeiz eines Karrieristen unterlaufen worden. Sebastian Kurz suggeriert, dass Scherben und Rauch so gar nichts mit ihm zu tun hätten, auch nicht die von ihm als Trennungsursache benannte dürre Frucht des Regierens, obwohl er sechs Jahre Teil davon war, oder doch nicht? Die Neuwahl wird als Beschluss des Parteien-Kollektivs hingestellt. So kann etwas zugleich richtig und falsch sein.
Beide operieren mit Stilisierungen: der eine als selbstloser Held der Arbeit. Der andere als Quereinsteiger von außerplanetarischer Herkunft. Von außen lässt sich die Schuldfrage rasch klären. Die Trennung selbst war ein Werk der ÖVP, ausgelöst durch Mitterlehners Rücktritt und vollzogen durch die machiavellistische Volte von Kurz. Er entschied sich für das Momentum des Bruchs. Die „schlechten Kompromisse“, die als Begründung nachgereicht wurden: türkise Girlanden.
Das Klima des Misstrauens hingegen haben beide Seiten zu verantworten. Hier ist auch der Kanzler nicht frei von Mitverantwortung. Sein achtlos in die junge Liebe geworfenes Reizwort von der Maschinensteuer, der Rückfall in die Orthodoxie bei Ceta und die Solonummer mit der Regierungserklärung zu Neujahr: All das war dem Miteinander wenig zuträglich und hat Mitterlehner gegenüber den Brunnenvergiftern geschwächt. instürzende Altbauten hat Ursula Plassnik die Volksparteien in Anspielung auf eine Punk-Band kürzlich genannt. Kern und Kurz versuchen, das Abbruchprojekt über das Hybridmodell eines Einpersonenunternehmens zu stoppen. Die Parteien bleiben unsaniert und abgedunkelt im Hintergrund. Ummantelt werden sie von Ich-AGs, erprobt in der Darstellungskunst und ausgestattet mit dem Machtanspruch von Monarchen.
Entsteht Neues? Kurz ist nicht Macron, er spielt ihn, seine erste Beförderung galt einer Bauernbündlerin. Kurz kann rücksichtsloser sein, Kern muss die Partei periodisch bei Laune halten, weil sie personell weniger nackt (Doskozil) und ein Dino noch im Gehege ist (Häupl). Aber die leise Öffnung zur FPÖ und die restriktive Haltung bei der Zuwanderung: Es sind beides Selbstermächtigungen. Sie sind kein Rechtsruck, sondern ein Ruck hin zu pragmatischer, machtpolitischer Vernunft. Da kennen sich beide recht gut aus.
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