Kurz oder Kern?
THURNHER kontr@ FLEISCHHACKER Ein Wortgefecht ohne Sichtkontakt. Die Kontrahenten sitzen vor ihren Laptops, schärfen Argumente und gehorchen drei Regeln:
MICHAEL FLEISCHHACKER: „Kurz oder Kern?“ist eine interessante Frage. Erinnert ein bissl an die berühmten Zeitungssuchbilder, in denen man die fünf Fehler finden musste, wobei mit Fehlern eigentlich Unterschiede, Abweichungen gemeint waren. Das ist es, was man Journalisten und anderen Profi-Auskennern als Aufgabe zuweist: Die Abweichung als Fehler festzustellen. Finde den Fehler im Bild. Ich glaube, unsere eigentliche Aufgabe ist das genaue Gegenteil davon: Finde das Bild im Fehler. Deshalb meine erste Antwort auf die Frage: Kern oder Kurz? Weder noch.
ARMIN THURNHER: Lieber Fleischhacker, warum überrascht mich das? Man könnte auch darüber reflektieren, warum in der österreichischen Innenpolitik vorzugsweise weiße Männer mit einsilbigen Nachnamen, die auf „z“enden, an die Spitze gelangen: Strolz, Pilz, Kurz. Das böte zwar ein Unterscheidungsmerkmal (Kern ist einsilbig, endet aber nicht auf „z“), würde die Frage jedoch ebenfalls nicht ausreichend beantworten. Ich denke, sie ist politisch gemeint. Vielleicht können Sie mir einfach einmal die politische Substanz von Kurz erklären? Oder sollen wir an dieser Stelle eine Leerzeile zwischenschalten?
FLEISCHHACKER: Ja, das ist jetzt wirklich schwierig. Vor ein paar Tagen hat ein anerkannter Innenpolitikjournalist in einer anerkannten Tageszeitung in einer groß angelegten ÖVP-Parteitagsanalyse auf der Titelseite zwei Mal „Sebastian Kern“geschrieben, und das fand ich sehr richtungsweisend. Ich denke, Sebastian Kurz steht für den Versuch, Freiheit und Tradition irgendwie unter einen Hut zu bringen, während Christian Kern versucht, Intellektualität und unterprivilegiertes Bauchgefühl auf einen Nenner zu bringen. Ich verstehe total, dass viele Leute enttäuscht sind darüber, dass der ÖVP-Spitzenkandidat im Inhaltlichen sehr vage bleibt. Aber mir macht das weniger aus als der Versuch des amtie- renden Kanzlers, halb gare Theorie in rohe Praxis umzusetzen.
THURNHER: So verschieden können Geschmäcker sein. Ich habe immer darauf gewartet, dass einmal einer kommt, der eine adaptierte Form des Konservativismus präsentiert, die Kirche hätte früher Aggiornamento dazu gesagt. Aber dass ausgerechnet ein Konservativer bloß eine sachentleerte Politmarketingmasche abzieht, das enttäuscht mich wirklich. Man soll sich als Kommentator keine Emotionen leisten, ich tue es trotzdem. Sebastian Kurz ist offenbar jedes Mittel recht, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu bringen, Zuspitzung in Sachen Islamismus in jeder Form inklusive. Auch bei Christian Kern sehe ich solche Elemente, aber nicht in dieser radikalen, hyperpersonalisierten Form.
FLEISCHHACKER: Ich mag Ihren Zugang zur konservativen Materie, Thurnher. Der geht ja ungefähr so: Die Konservativen sind eigentlich Reaktionäre, aber wenn sie, wie, sagen wir, Johannes XXIII., versuchen, wieder auf den Pfad der durchschnittlichen Rückständigkeit zurückfinden, finden wir sie eh ganz süß. Es sorgen sich ja jetzt ungefähr dieselben Leute um die „Neue Volkspartei“, die sich immer um die Kirche gesorgt haben: Nämlich solche, die die ÖVP nie gewählt und die Kirche nie besucht hätten. Wenn dann mal jemand kein Programm vorlegt, herrscht natürlich Irritation und vielleicht sogar ein wenig Angst: Was, wenn der gar nicht so reaktionär ist, wie er sein soll?
THURNHER: Oder wenn er viel reaktionärer ist, als er ausschaut? Ich meine das nicht physisch, sondern anmutungsmäßig. Ihre Einschätzung meiner Ansicht von Konservativismus erfüllt mich mit Befriedigung, denn ich glaube beharrlich an einen möglichen Unterschied zwischen Konservativismus und Reaktion; Leute wie Friedrich Heer, Hans Koren oder Erhard Busek bei uns oder auch Timothy Garton Ash bestärken mich in diesem drolligen Vorurteil. Ja, ich finde die programmatische Leere des Sebastian Kurz beunruhigend; mehr aber noch, dass sich mit dieser Lücke eine alte, zugegebenermaßen abgetakelte Partei wie die ÖVP zur Vollkapitulation zwingen lässt und dabei wohlig aufstöhnt. Dass man mit einem politischen Vakuum und einer geölten PR-Maschine die desolate österreichische Medienlandschaft vor sich hertreiben kann, daran haben wir uns ja gewöhnt. Grenzen schließen! Schutz vor dem Islam! Und sonst? Aber vielleicht reden wir noch ein bisschen über Christian Kern, solange Platz ist.
FLEISCHHACKER: Man muss nicht so desolat beisammen sein wie die österreichische Medienlandschaft und kann trotzdem begreifen, dass es zum Grenzschutz keine Alternative gibt, auch und gerade wenn man etwas für die tun will, die sich auf den Weg machen. Wir können gern eine gemeinsame Lesestunde mit Paul Collier ins Auge fassen. Ach ja, Christian Kern. Ich denke, er ist ein wacher Geist, an vielem interessiert, und ein Mann mit einer tiefen Sehnsucht nach der Oberfläche. Journalist halt.
THURNHER: Nebenbei auch Bundeskanzler. Ich glaube nicht, dass er jetzt noch Journalist ist, auch wenn er so begonnen hat. Immerhin wollen wir ihm zugutehalten, dass er als Bundeskanzler öffentlich gesagt hat, der österreichische Boulevard, speziell die Zeitung „Österreich“, solle weniger Geld bekommen. So weit bekannt ist, spitzen Kerns Mitarbeiter auch keine wissenschaftlichen Studien so zu, dass sie seine politische Sicht bekräftigen. Die Notwendigkeit des Grenzschutzes hat er genauso wenig bestritten wie Sie und ich. Zwischen „Ich schließe alle Routen und sage Nein, Nein, Nein, Nein, Nein“und „Lasst alle Menschen guten Willens zu uns hereinkommen“erstreckt sich doch ein weites Land.
FLEISCHHACKER: Ja dazwischen liegt das weite Land des Selbstbetrugs. Schnitzler für Arme, sozusagen. Aber zurück zum Kanzler: Ich finde ihn wirklich interessant, aber ich werde den Eindruck nicht los, als gälte für ihn das, was Sie vor allem an Sebastian Kurz beobachten: Die wahre Leidenschaft gilt nicht der Welt, sondern der eigenen Rolle darin.
THURNHER: Das kann man heute von jedem sagen, nicht zuletzt von uns. Das wäre auch kein Vorwurf, denn jeder muss seine Rolle spielen, wir beurteilen halt, wie. Dazu kommt, dass man etwas nur spielen kann, wenn man es ist. Kern hat den Vorteil, dass man ihm seine Wirtschaftskompetenz abnimmt, weil er sie als ÖBB-Chef bewiesen hat. Über Kurz sagte der Sanierer und Investor Erhard Grossnigg kürzlich: „Als Integrationsminister hat er nichts gemacht. Als Außenminister hat er 80 Prozent der EUSitzungen versäumt. Bei der Wien-Wahl hat er sich aus dem Staub gemacht, weil hier kein Match zu gewinnen ist.“
FLEISCHHACKER: Tut mir leid, aber das Überleben in Staatsbetrieben gilt bei mir nicht als Ausweis der Wirtschaftskompetenz. Ein ÖBB-Generaldirektor ist dann halt am Ende doch eher ein Schienenministerialrat, und von denen war Kern sicher einer der begabtesten, weil er ja immer auch ein bisschen cool sein will, und das kommt dann schon gut. Aber wahr ist sicher auch, dass sich an den ökonomischen Fragen entscheiden wird, ob Kurz vom politischen Ausnahmetalent zum Staatsmann werden kann.
THURNHER: Das mit den ÖBB ist eine sträfliche Unterschätzung, die ich nicht teile. Kern kann Wirtschaft, das wird sich auch in einschlägigen Debatten zeigen, wenn sie denn geführt werden.