Wenn der Bonbon-Pop politisch wird
US-Popstar Kesha nutzt ihr drittes Album „Rainbow“zur radikalen Neuerfindung. Kein Wunder bei ihrer Vorgeschichte.
Es ist ihr erstes Album seit fünf Jahren, sie ist damit Anfang der Woche von null auf Platz eins der US-Billboard-Charts gefegt. In den österreichischen Albumcharts ist sie am Freitag auf Platz 16 eingestiegen. Kesha ist zurück.
Das ist speziell aus einem Grund bemerkenswert: Gut drei Jahre lang hat die amerikanische Sängerin mit allen Mitteln versucht, die Geschäftsbeziehung zu ihrem langjährigen Produzenten Dr. Luke aufzulösen. Der hatte sie 2005 als 18Jährige unter Vertrag genommen. 2014 brachte sie gegen ihn Klage wegen sexuellem und emotionalem Missbrauch ein. In den Folgejahren veröffentlichte sie bis auf eine Single keine Musik mehr – dafür erschienen über sie zahlreiche Medienberichte, die von Bulimie, Depressionen, Drogen, Entzug, Selbstmordversuch erzählten.
Jahrelang sorgte der Fall „Kesha vs. Dr. Luke“auch außerhalb der Musikszene international für Schlagzeilen. Sichtbar wurden durch die Berichte nicht nur die schaurigen Machtstrukturen des Popbusiness, sondern auch die künstlerische Leibeigenschaft, in die sich junge Musikerinnen und Musiker durch langjährige Knebelverträge begeben.
Keshas Klage wurde vor Gericht letztlich abgewiesen, 2016 gab sie das Verfahren auf. Die Gegenklage ihres Ex-Produzenten läuft noch. Seit Dr. Luke Anfang des Jahres von Sony, dem Eigentümer seines Labels, gefeuert wurde, war die Sängerin immerhin künstlerisch nicht mehr an jenen Mann gekettet, der ihr sexuelle Gewalt angetan haben soll. Sie hat seither keine Zeit verschenkt: Mitte August kam „Rainbow“auf den Markt, ihr drittes Album seit „Animal“(2010) und „Warrior“(2012).
Erwartungsgemäß
markiert „Rainbow“nicht nur eine Abkehr vom zappeligen Elektropop ihrer älteren Werke – die Sängerin hat sich etwa Dolly Parton als Duettpartnerin für zwei Country-inspirierte Songs geholt und lässt in „Boogie Feet“die „Eagles of Death Metal“in die Gitarren dreschen – es dient auch der Aufarbeitung ihrer letzten Jahre. Die erste Singleauskoppelung „Praying“ist eine wütende Abrechnung mit einem anonymen, aber leicht zuordenbaren Aggressor: „Du hast mir die Hölle beschert“, heißt es da, „wir kennen beide die Wahrheit, die ich erzählen könnte“, und: „Manches kann nur Gott vergeben.“Nicht nur so deutlichen Worten ist der Zuspruch von Kritik und Publikum zu verdanken, der „Rainbow“ nun international widerfährt. Keshas Musik wendet sich an junge Mädchen, und das Album, speziell die ihm innewohnende Erzählung einer öffentlich ausgetragenen Schlacht gegen einen mächtigen, sexuell aggressiven Kontrahenten trifft den Nerv der Zeit.
Erst unlängst hat Pop-Superstar Taylor Swift sich in einem weltweit kolportierten Prozess gegen einen Grapscher zur Wehr gesetzt und vor Gericht gewonnen. In Zeiten, in denen Grapscher Weltpolitik machen, lässt sich das als Lehrbeispiel dafür lesen, wie man sexistische Übergriffe selbstbewusst vor aller Augen kontert. Erstaunlich nur, dass es die Repräsentantinnen des Bonbonsounds sind, die den Pop wieder dermaßen politisch machen.