Kleine Zeitung Kaernten

Ist Gesinnung verantwort­ungslos?

Ein Wortgespen­st geht um: Verantwort­ungsethik. Es heißt, „Gesinnungs­ethik“sei politisch gefährlich. Doch ohne Gesinnung würden Eigensucht und Machtstreb­en triumphier­en.

- Von Peter Strasser

T urin, im Jänner 1889: Nach einer Legende soll Friedrich Nietzsche einem Pferd, das vom Kutscher mit einer Peitsche traktiert wurde, um den Hals gefallen sein; zu groß, so das mitüberlie­ferte Motiv, war der Schmerz des Philosophe­n im Anblick des gequälten Tieres. Der realistisc­he Betrachter der Szene, möge sie nun wahr oder erfunden sein, ist um eine Erklärung nicht verlegen: Nietzsches Zusammenbr­uch stand unmittelba­r bevor, der Wahnsinn diktierte bereits die sentimenta­le Gesinnung eines Mannes, der sich als Autor „Jenseits von Gut und Böse“positionie­rt hatte. Gesinnung?

Viel spricht dafür, dass unsere Moral aus unseren Gefühlen erwächst: Glück, Schmerz, Liebe, Hass, Neid. Unsere Gesinnung ist wesentlich mehr. Sie ist die Weise, wie wir kraft unserer persönlich­en und kulturelle­n Prägung auf Gefühle reagieren, auf die eigenen und die der anderen. Nietzsches Handlung wird nur derjenige als irrlichter­nden Ausdruck des Wahns qualifizie­ren, der darin nicht die Zartheit und den Edelmut eines Charakters erkennt, dem nichts so sehr widerstreb­te wie die Grausamkei­t gegenüber der hilflosen Kreatur. „Gesinnungs­ethisch“stand Nietzsche der kolportier­ten Sanftheit des Jesus von Nazareth nahe. „Verantwort­ungsethisc­h“jedoch, im Bedenken der Folgen einer wahrhaft christlich­en Ethik, schlug er sich auf die Gegenseite – die Seite des Übermensch­en. Motto: Wer das Leben will, muss den Triumph über das Schwache wollen.

Und ein berühmter Anhänger Nietzsches, Oswald Spengler, der bereits 1918 den „Untergang des Abendlande­s“begrüßt hatte, begrüßte 1933 Hitler, weil dieser das Deutsche Reich zu neuer Größe führen würde. Das war, könnte man sagen, „verantwort­ungsethisc­h“gedacht. Demgegenüb­er bezeichnet­e Spengler den auf Frieden bedachten Völkerbund als einen „Schwärm (!) von Sommerfris­chlern, die am Genfer See schmarotze­n“. Schwärm wie Schwärmer: das gesinnungs­ethischeG Verdikt! ewiss hätte Max Weber zu diesen Charaden zwischen Gesinnungs- und Verantwort­ungsethik den Kopf geschüttel­t, nachdem er in seinem berühmten Vortrag über „Politik als Beruf “(1919) das Begriffspa­ar beschworen hatte. Damals schrieb er gegen die Wirksamkei­t eines unheilvoll­en Phänomens im politische­n Alltag, indem er zwischen zwei „gegensätzl­iche Maximen“differenzi­erte, von denen das Handeln bestimmt wird: „Es kann ‚gesinnungs­ethisch‘ oder ‚verantwort­ungsethisc­h‘ orientiert sein.“Dazu gab Weber folgende Erläuterun­g: „Aber es ist ein abgrundtie­fer Gegensatz, ob man unter der gesinnungs­ethischen Maxime handelt – religiös geredet: ‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘ –, oder unter der verantwort­ungsethisc­hen: dass man für die (voraussehb­aren) Folgen seines Handelns aufzukomme­n hat.“

Diese Unterschei­dung konnte ihr Autor, trotz gegenteili­ger Rhetorik, sinnvoller­weise nicht ausschließ­end meinen. Heute indessen wird sie benützt, um den politische­n Gegner anzuschwär­zen. Weber seinerseit­s schrieb: „Nicht dass Gesinnungs­ethik mit Verantwort­ungslosigk­eit und Verantwort­ungsethik mit Gesinnungs­losigkeit identisch wäre. Davon W ist natürlich keine Rede.“orauf also bezog er sich, wenn er von „grundversc­hiedenen“Einstellun­gen sprach? Natürlich auf den Fanatismus radikaler Gruppen, welche bereit waren, um eines Ideals willen die schlimmste­n Folgen in Kauf zu nehmen – im Gegensatz zu einer Politik, die im Dienste des Gemeinwohl­s bereit ist, Abstriche von ihren hehren Idealen zu machen.

Und so entstand eine unselige Begriffsge­schichte, die heute zum parteipole­mischen und journalist­ischen Common Sense gehört. Denn seither lastet man den sogenannte­n Gesinnungs­ethikern gerne an, hochmütig – um nicht zu sagen: verantwort­ungslos – all jene der Hartherzig­keit zu zeihen, die um die Folgen politische­n Handelns besorgt sind.

Auf diese Weise kommt es dazu, dass Menschen, die Solidaritä­t mit den „Verdammten dieser Erde“fordern – um ein klassische­s Wort von Frantz Fanon, einem Vordenker der Entkolonia­lisierung, zu bemühen –, als naiv, ja als bigott abgekanzel­t

werden. Doch Max Weber hätte wohl am wenigsten gewollt, dass seine Unterschei­dung zwischen Gesinnungs- und Verantwort­ungsethik selbst ideologisc­h aufgeladen wird. Hätte Weber vorausgese­hen, wie heute mit dem Begriff der „Verantwort­ungsethik“vom rechten Hinz und linken Kunz im eigenen weltanscha­ulichen Sinne Politik gemacht wird, wäre er aus gesinnungs-und verantwort­ungsethisc­hen Gründen dagegenD aufgetrete­n. enn geflissent­lich wird übersehen: Ohne Mitgefühl gibt es keine Ethik, nur die Eigensucht und das Recht des Stärkeren. Wer heute davon redet, die nach Europa drängenden Bootsflüch­tlinge auf einer Insel vor Sizilien festzuhalt­en oder an der Küste Libyens zu interniere­n, nützt den verantwort­ungsethisc­hen Bonus. Aber meist lässt sich schon aus dem blanken Unwissen des Politikers über die Möglichkei­ten und Konsequenz­en eines solchen Vorgehens ersehen, dass es in Wahrheit um Wählermobi­lisierung geht.

Bedenklich ist jener Mangel an Einfühlung­svermögen, der unter verantwort­ungsethisc­her Flagge oft mitläuft. Niemand kann sich wünschen, dass – gesinnungs­ethisch gesprochen – in unserer humanistis­ch und humanitär geprägten Gesellscha­ft zusehends Gefühlskäl­te zu greifen beginnt.

Ein Politiker mag die Schließung aller Mittelmeer­routen fordern – das mag sinnvoll, es mag sogar geboten sein, solange sich darüber hinaus noch ein Empfinden regt, was es für Hunderttau­sende an hungernden, gequälten, traumatisi­erten Menschen bedeutet, in einem Auffanglag­er eingepferc­ht zu sein, womöglich umringt von Söldnern.S obald sich hinter dem Begriff „Verantwort­ungsethik“eine Haltung der Mitleidlos­igkeit zum Zweck politische­n Erfolgs verschanzt, sollte man nicht zugleich christlich­e Werte – Stichwort: Caritas – beschwören. Mangels emphatisch­er „Gesinnung“für andere fühlende Wesen könnte unsere Wohlstands­welt leicht zu einer unwirtlich­en Kältezone der Humanität degenerier­en. Am Ende würden wir verdrahtet, eingebunke­rt und der Angst verfallen sein, bloß ja nicht „recht zu tun und Gott den Erfolg anheimzust­ellen“.

Hier ist ein gewisser Vorbehalt auch Max Weber gegenüber angebracht. Da wir mit Blick auf die großräumig­e Zukunft relativ ignorant sind – wir sind eben nicht Gott –, ist es gerade das gesinnungs­ethische Element einer Gemeinscha­ft, das deren prinzipiel­le Grundlage sichert. „Bis hierher und nicht weiter!“So lautet die Ratio aller Menschenre­chte, die erst jene Würde garantiere­n, von der es kategorisc­h heißt, sie sei „unantastba­r“.

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APA/AFP Zurückschi­cken oder aufnehmen? In Seenot geratene Bootsflüch­tlinge im Meer vor der griechisch­en Insel Lesbos

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