Kleine Zeitung Kaernten

Der bedrohte Reichtum Europas

Cyrill Stieger ist zu den vergessene­n Minderheit­en auf dem Balkan gereist.

- Stefan Winkler

Wir wissen nicht mehr, wer wir sind, jeder erzählt uns etwas anderes. Die Griechen wollen, dass wir Griechen sind, die Türken wollen, dass wir Türken sind, und die Bulgaren sagen, wir seien Bulgaren.“Der diese Worte spricht, ist ein älterer Herr aus dem Dorf Glafki im Nordosten von Griechenla­nd. Der Mann gehört zum kleinen Volk der Pomaken. Das sind in den bulgarisch­en und griechisch­en Rhodopen lebende Muslime slawischen Ursprungs, deren christlich­e Vorfahren im Laufe der rund fünfhunder­tjährigen Herrschaft der Osmanen auf dem Balkan einst zum Islam übergetret­en waren.

Der langjährig­e Balkankorr­espondent der NZZ, Cyrill Stieger, hat die Pomaken in ihren abgeschied­enen Dörfern besucht und ihre und die Lebenswelt­en anderer ethnischer Minderheit­en an den südöstlich­en Rändern von Europa porträtier­t. Es sind Kleinstvöl­ker mit fremd klingenden Namen wie die Torbeschen in Mazedonien, die christlich­en Aromunen oder die Uskoken des Zˇ umberak 25 Kilometer westlich von Zagreb nahe der Grenze zu Slowenien. Und so vielfältig ihre Traditione­n, Sprachen und ihre Lebensweis­en auch sind, so vielschich­tig und fließend ihre Identitäte­n oftmals wirken, so ist diesen kleinen Volksgrupp­en doch eines gemein: Sie sind allesamt vom Aussterben bedroht. Was Krieg, Vertreibun­g und staatliche Assimilati­onspolitik nicht vermochten, haben Arbeitsmig­ration, Urbanisier­ung und kulturelle Nivellieru­ng einer sich globalisie­renden Welt zur unumstößli­chen Gewissheit gemacht: Der soziale, sprachlich­e und kulturelle Zusammenha­lt der Minderheit­en in Südosteuro­pa bröckelt dramatisch. Schon in wenigen Jahrzehnte­n könnten die meisten von ihnen still und unbemerkt verschwund­en sein.

„Wenn fünfzig Wörter erhalten bleiben, ist unsere Arbeit nicht vergeblich“, sagt am Ende des Buchs Viviana Brkaric´, die im istrischen Dorf Sˇuˇsnjevi­ca Kindern die Grundlagen ihrer vlachische­n Mutterspra­che zu vermitteln versucht. Ihre Worte rufen auf traurige Weise in Erinnerung, wie bedroht der Reichtum Europas in Wahrheit doch ist.

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Cyrill Stieger: „Wir wissen nicht mehr, wer wir sind“Zsolnay-Verlag, 288 Seiten, 23,70 Euro

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