Der bedrohte Reichtum Europas
Cyrill Stieger ist zu den vergessenen Minderheiten auf dem Balkan gereist.
Wir wissen nicht mehr, wer wir sind, jeder erzählt uns etwas anderes. Die Griechen wollen, dass wir Griechen sind, die Türken wollen, dass wir Türken sind, und die Bulgaren sagen, wir seien Bulgaren.“Der diese Worte spricht, ist ein älterer Herr aus dem Dorf Glafki im Nordosten von Griechenland. Der Mann gehört zum kleinen Volk der Pomaken. Das sind in den bulgarischen und griechischen Rhodopen lebende Muslime slawischen Ursprungs, deren christliche Vorfahren im Laufe der rund fünfhundertjährigen Herrschaft der Osmanen auf dem Balkan einst zum Islam übergetreten waren.
Der langjährige Balkankorrespondent der NZZ, Cyrill Stieger, hat die Pomaken in ihren abgeschiedenen Dörfern besucht und ihre und die Lebenswelten anderer ethnischer Minderheiten an den südöstlichen Rändern von Europa porträtiert. Es sind Kleinstvölker mit fremd klingenden Namen wie die Torbeschen in Mazedonien, die christlichen Aromunen oder die Uskoken des Zˇ umberak 25 Kilometer westlich von Zagreb nahe der Grenze zu Slowenien. Und so vielfältig ihre Traditionen, Sprachen und ihre Lebensweisen auch sind, so vielschichtig und fließend ihre Identitäten oftmals wirken, so ist diesen kleinen Volksgruppen doch eines gemein: Sie sind allesamt vom Aussterben bedroht. Was Krieg, Vertreibung und staatliche Assimilationspolitik nicht vermochten, haben Arbeitsmigration, Urbanisierung und kulturelle Nivellierung einer sich globalisierenden Welt zur unumstößlichen Gewissheit gemacht: Der soziale, sprachliche und kulturelle Zusammenhalt der Minderheiten in Südosteuropa bröckelt dramatisch. Schon in wenigen Jahrzehnten könnten die meisten von ihnen still und unbemerkt verschwunden sein.
„Wenn fünfzig Wörter erhalten bleiben, ist unsere Arbeit nicht vergeblich“, sagt am Ende des Buchs Viviana Brkaric´, die im istrischen Dorf Sˇuˇsnjevica Kindern die Grundlagen ihrer vlachischen Muttersprache zu vermitteln versucht. Ihre Worte rufen auf traurige Weise in Erinnerung, wie bedroht der Reichtum Europas in Wahrheit doch ist.