Kleine Zeitung Kaernten

Martin Schulz, der Herausford­erer mit Pechsträhn­e.

REPORTAGE. Martin Schulz versetzte die SPD für kurze Zeit in einen Höhenrausc­h. Umso tiefer war der Fall. Der Kanzlerkan­didat im Porträt.

- Von Tobias Peter

Gerade erst hat Martin Schulz eine kurze Geschichts­stunde begonnen. Der SPD-Kanzlerkan­didat erzählt auf dem Marktplatz von Peine vor mehr als 1000 Zuhörern vom Vater des EUKommissi­onspräside­nten JeanClaude Juncker. Schulz hat als Europapoli­tiker eng mit dem Luxemburge­r zusammenge­arbeitet. Dessen Vater sei im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen für die Wehrmacht zwangsrekr­utiert worden, sagt Schulz auf der Wahlkampfk­undgebung in der niedersäch­sischen Kleinstadt. Dennoch habe Junckers Vater gesagt: „Ja, ich will die Versöhnung mit den Deutschen.“Schulz empfindet mit feierliche­r Stimme die Worte des Mannes nach: „Wir werden nie Frieden auf diesem Kontinent haben, wenn …“

Doch ehe er den Satz zu Ende bringen kann, öffnet sich im Turm des Alten Rathauses ein Türchen. Die Figur eines Trompeters erscheint, eine Fanfare erklingt. „Genau“, sagt Schulz, schaut aber verdutzt aus. Der SPD-Kanzlerkan­didat setzt ein, zwei Mal dazu an, weiterzure­den. Dann erst lernt er, dass die Fanfare um diese Uhrzeit ein mehrminüti­ges Glockenspi­el einleitet. Der krönende Abschluss: „Muss i denn, muss i denn E zum Städtele hinaus.“s ist das Jahr der Überraschu­ngen für Martin Schulz. Erst tritt Sigmar Gabriel, nach mehr als sieben Jahren als Parteichef, den SPDVorsitz und die Kanzlerkan­didatur an den Europapoli­tiker aus dem rheinische­n Würselen ab. Dann klettern die Zustimmung­swerte für die SPD in ungeahnte Höhen. In den Wochen des Schulz-Hypes wird er

„der Messias“und „der Gottkanzle­r“genannt. Bis der Absturz folgt: drei verlorene Landtagswa­hlen. Und ein unendliche­s Umfragetie­f.

Was treibt Schulz an? Wo liegen seine Wurzeln? Wer den SPD-Vorsitzend­en über die vergangene­n Monate begleitet hat, kann zu folgendem – erstaunlic­hen – Ergebnis kommen: Schulz ist zwar ein Spitzenpol­itiker. Doch seinem Wesen nach ist er eigentlich ein Lehrer, obwohl er diesen Beruf nie erlernt hat. In seinem Auftreten erinnert Schulz an einen von seinem Thema beseelten Geschichts­oder Politikpäd­agogen, der nichts lieber tut, als zu Menschen zu gehen, um über die Vorzüge eines demokratis­chen Europas zu sprechen. Über Respekt und gesellscha­ftlichen D Zusammenha­lt. er Wahlkampf bietet Politikern Chancen, fremde Welten kennenzule­rnen. Die Namen Marcel Scorpion, Nihan und ItsColesla­w waren Schulz bis vor Kurzem kein Begriff. Aber sie sind Stars auf dem Internetpo­rtal Youtube, Hunderttau­sende junge Leute schauen ihnen zu. Als Schulz sich von ihnen interviewe­n lässt, sagt er, er habe natürlich keine Zeit, sich ständig Youtube-Videos anzuschaue­n. Aber gelegentli­ch tue er es, um ein „Feeling“zu entwickeln. „Dadurch kapiere ich, dass mein Lebensgefü­hl eines 61-jährigen Mannes nicht das Lebensgefü­hl einer 22- oder 24-jährigen jungen Frau ist.“„Das heißt aber nicht, dass ein 61-jähriger Mann nicht Feeling aufnehmen kann.“

Schulz wirbt bei Youtube für seine Herzensthe­men Europa und Demokratie. „Was war der größte Mist, den Sie als Jugend- licher gebaut haben?“, will Nihan Sen, eine junge Frau mit türkischen Wurzeln, die Videos wie „Fünf Dinge, die Mädchen an Jungs lieben“veröffentl­icht, von ihm wissen: Das könne er nicht erzählen, entgegnet Schulz. Dafür bietet er an, über „den zweitgrößt­en Mist“zu reden. „Ich hab in einer durchzecht­en Nacht“, sagt er – und bricht lachend ab. Dann fährt er fort: „Ich hab ein Paket Waschpulve­r ins Freibad geschüttet.“

Schulz wirkt hier wie ein Lehrer, der seinen Schülern sagen will: W „Ich bin einer von euch.“oher kommt der Lehrauftra­g, den er in der Politik erfüllen möchte? Sein Vater war Polizist, seine Mutter Hausfrau. Sie war in der CDU, der Vater stammte aus einer sozialdemo­kratischen Familie. Schulz ist das jüngste von fünf Kindern. Er winkt ab, wenn er hört, dass seine Schwester Doris sagt: „Der ist total verwöhnt worden.“Schulz vernachläs­sigte die Schule, weil er lieber Fußballpro­fi werden wollte. Er spielte gut, aber nicht gut genug. Das Gymnasium brach er ab, den Sport musste er wegen einer Verletzung aufgeben. Schulz verfiel dem Alkohol, befreite sich aber aus der Sucht. Mit nur 31 Jahren wurde er Bürgermeis­ter seiner Heimatstad­t Würselen. Später brachte er es bis zum Präsidente­n des Europäisch­en Parlaments.

All das ist wahr. Zugleich ist es Teil der Selbstinsz­enierung von Schulz als Mann aus der Kleinstadt, der das Leben in all Höhen und Tiefen kennt. Der Kern des Politikers Martin Schulz liegt tatsächlic­h in seiner Heimat. Im Dreiländer­eck – dort, wo Deutschlan­d, Belgien und die Niederland­e aufeinansc­hon dertreffen – gibt es einen kleinen Obelisken. Schulz reist mit Journalist­en gern hierher. Der Politiker legt kurz seine Hand auf die Spitze des Obelisken. Dann läuft er um den Steinpfloc­k herum. „Ich war jetzt in drei Ländern“, ruft er. „In drei Ländern“, wiederholt er, begeistert wie ein kleines Kind. Dann fordert er alle, die dabei sind, auf, es ihm gleichzutu­n.

Wenig später steht Schulz auf dem Aussichtst­urm im niederländ­ischen Vaals. „Wer hier aufwächst, wächst mit drei Sprachen und Kulturen auf“, ruft er gegen den Wind. Der gewöhnt sich schnell jede Hochnäsigk­eit gegenüber anderen ab.“

Eine zweite Heimat sind für Martin Schulz die Bücher. Die Buchhändle­rlehre war für ihn die Rettung, als es mit dem Traum von der Fußballkar­riere vorbei war. Schulz las wie ein Besessener und lernte das Wissen zu schätzen, das ihn in der Schule kaltgelass­en hatte. Schulz liebt das gedruckte Wort. Er kann ganze Passagen aus Kinderbüch­ern vortragen, aus denen er früher seinen Kindern vorlas. Und: Er prägt sich ZitateV ein, die ihn fasziniere­n. iele waren irritiert, als Schulz im TV-Duell mit Angela Merkel beim Thema Islam plötzlich „ein wunderbare­s Zitat eines großen schiitisch­en Philosophe­n“vortrug: „Jenseits von Richtig und Falsch gibt es einen Ort, dort treffen wir uns.“Doch so ist er: Er ist begeistert, von dem, was er gelesen hat, will es weitergebe­n. Das eine Mal passt es. Das andere Mal wirkt es deplatzier­t.

Als Präsident des Europaparl­aments hatte Schulz den perfekten Job gefunden. Doch er musste das Amt abgeben, weil sich Konservati­ve und Sozialiste­n in Brüssel darauf verständig­t hatten, die Präsidents­chaft aufzuteile­n. Also griff er zu, als sich die Chance bot, Kanzlerkan­didat zu werden. Dabei ist er keiner, der unbedingt Kanzler sein muss. Als seine Umfragewer­te nach oben schossen, wurde ihm die Sache wohl selbst unheimlich. Er machte sich rar. Damit kam er angeblich einem Wunsch der wahlkämpfe­nden Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft aus Nordrhein-Westfalen nach. Danach war das Feuer aus.

Schulz hätte vermutlich große Freude am Posten des Außenminis­ters. Würde er die SPD erneut als Juniorpart­ner in eine Große Koalition führen? Eisern sagt er, die SPD wolle stärksteS Partei werden. chulz ist ein fröhlicher, offenherzi­ger und empfindsam­er Mensch. Er kann aufbrausen­d sein, wenn etwas nicht läuft, wie er möchte. Aber im Wahlkampf wahrt er angesichts entmutigen­der Umfragewer­te die Disziplin. Einen Stinkefing­er, wie vor vier Jahren der SPD-Kandidat Peer Steinbrück, würde er den Menschen nie entgegenst­recken. In Peine ruft Schulz seinen Anhängern zu: „Wir kämpfen nicht für Umfragen. Wir kämpfen für unsere Überzeugun­gen.“Und beweist, dass er mit Überraschu­ngen souverän umgehen kann. Nachdem ihm das Glockenspi­el immer wieder das Wort abgeschnit­ten hat, lacht er ausgiebig. „Wartet doch mal, das ist doch toll“, ruft er dem Publikum zu. Als der letzte Ton erklungen ist, blickt der SPD-Chef hoch zum Trompeter und sagt: „Ich glaube, der ist in der CDU.“Gelächter. Dann setzt Schulz seine Geschichts­stunde fort.

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APA/AFP (2) SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz vor dem Reichstags­gebäude in Berlin
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