Rilke statt öde Parolen
Gerade komme ich aus unserer Bundeshauptstadt von einer Besprechung mit dem Pressechef meines Verlags: Liebe Landsleute, lasset euch sagen: Die nächsten Wochen werden hart! Wien ist völlig zuplakatiert und erstickt geradezu unter Wahlslogans in allen Farben! Auf der Heimfahrt hatte ich Zeit, mir alle Botschaften durch den Kopf gehen zu lassen.
Einer der Spitzenkandidaten hat eine frühere Losung der politischen Konkurrenz in ihr Gegenteil verkehrt und agiert nun nach der Maxime: Mit der Partei seid ihr nichts! Das nennt er einen „neuen Stil“, und der Slogan neben seinem Konterfei lautet: „Es ist Zeit“. Das heißt, er plakatiert einfach das Herbstgedicht von Rainer Maria Rilke. Das ist aber mal hübsch! Keine leeren, keine falschen Wahlversprechen, keine Ankündigungspolitik, keine Parolen. Stattdessen einfach: Lyrik! Genial! Das ist wirklich ein neuer Stil! Nach dem Verstreichen der Urheberrechtsfrist sogar eine kostengünstige Variante! Wenn man bedenkt, welche Möglichkeiten sich da auftun! Österreich ist und bleibt eine Kulturnation! Entweder gewinnt man so die Nationalratswahl – oder ein paar Wochen später den Lyrikpreis der Stadtwerke… Eine Win-win-Situation! Hundert Jahre haben sich die armen Lyriker beschwert, dass man ihre Gedichte als brotlose Kunst ansieht, die man bestenfalls als Introitus für Partezettel verwenden konnte, dass auf ihren Sonnenuhren Schatten liegen und die Winde auf den Fluren so kalt sind. Wer, wenn ich schrie, hörte, mich denn aus der Vergessensengel Ordnungen?, winselten sie – und wir antworten heute frohgemut: Wir alle! Eure Gedichte stehen am Gürtel herum wie früher die Prostituierten!
Die Konkurrenz schläft natürlich nicht – und schon sehe ich mit meinem inneren Auge Wahlplakate aus der Druckerpresse schlüpfen, auf denen steht „Im Tale grünet Hoffnungsglück“oder „Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal fortbegeben…“Riskant könnte es freilich werden, wenn man sich bei Arbeiterdichtern bedient: „Steigend auf so wie Gestirne geh’n sie wie Gestirne nieder… nur für uns, die wir sie nähren müssen, ist das immer ziemlich gleich gewesen… ach, der Stiefel glich dem Stiefel immer, und uns trat er…“
Naja. Nach der Nationalratswahl gilt dann ergebnisunabhängig: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange E-Mails schreiben…