Heute erscheint der neue Roman Peter Handkes, „Die Obstdiebin“.
Heute erscheint Peter Handkes neuer Roman. Virtuos beschwört er die Lust am Verirren.
Als „Letztes Epos“will der bald 75-jährige Peter Handke „Die Obstdiebin“verstanden haben. Es wird nicht das letzte sein, es gibt keine letzten Epen, wie es keine ersten gibt, für diesen Dichter in Sonderheit nicht, der sein Erzählen niemals als Zeit-Zeuge oder gar als Zeit-Genosse, sondern stets als „Bezeuger“der „hiesigen“Welt betreibt. Und Welt, so definiert dieses Buch überraschend unzweideutig, das ist „die Dreiecksgeschichte zwischen einem selber, der Natur und den Anderen“.
Bei „einem selber“beginnt dies Epos auch, einem Ich-Erzähler, der absichtlich alle Gräben zwischen Fiktion und Dokumentation „umgeht“, also unumwunden als Handke-Ich identifizierbar ist. Diesem Dichter-Ich „widerfährt“ein Bienenstich: Mit einem „Gestochenwerden“, einem Einstich durch die Natur zu Hause „im Garten der Niemandsbucht“setzt das Erzählen ein. Das will ein Zeichen sein: „Fort mit dir. Die Stunde des Aufbruchs, sie ist gekommen.“Also macht sich dies Ich auf, verlässt „das Anwe- sen“, geht in die Stadt, beschaut Mensch und Natur, Bäume, Tiere, „Landstraßenkot“und ergeht sich in der „ans Herz gewachsenen Beschäftigung“des „Nachschauens“, der Suche nach „Stillezufuhr“. Das Motto der ersten gut 130 Seiten: „Lasst uns sehen.“
Aber das umherschauende Handke-Ich versieht, verirrt sich offenbar in „einem selber“, wird von Grimm und Groll befallen, fantasiert sich eine „erdrückende Mehrheit der Zweibeiner“zurecht, die er zur „Rasse der Unerreichbaren“rechnet: „Nichts wundert sie. Nichts macht sie aufhorchen.“Die Anderen als die vom eigenen Ich Abgehängten: Handke weiß, welches identitätslogische Denken, welche rassistisch ausbeutbaren Vorstellungen er hier bedient. Sein Erzähler-Ich sucht sich zu retten, indem es von „meinen Unerreichbaren“spricht, in der Hoffnung, dass sie zu Erreichbaren würden: „Hochmütiger Gedanke. Hoffährtiger!“
„Fast feierlich“wird dem Dichter-Ich da zumute „bei dem Gefühl, nichts mehr zu sagen zu haben“. Abschied vom „süßen Schrecken“, und mit „Staunen“beginnt die Geschichte der „Obstdiebin“, erzählt aus halbsicherer, auktorialer Distanz. Für drei Tage folgt das Buch ihren Wanderungen, die kein gewöhnliches Ziel haben, sondern einen „Behuf“, um „zu erforschen was auch immer“.
Die „Obstdiebin“, Alexia genannt, „blutjung“, ist „auf Muttersuche“unterwegs „ins Landesinnere“, in die Picardie. Eine, die „heimisch im Unerklärlichen“ist, eine „Auserwählte“. Eine, die „mit all den Staaten der Welt nichts zu schaffen haben“wollte. Eine Umhergeherin, deren „kaleidoskopisches Gehen“ein Weltdurchstreifen „in sich weitenden Spiralen“ist. Sie geht allein, sie geht mit einem „Valter“genannten „Fremden“, sitzt,
staunt, schweigt, zürnt und ist voller Zartheit.
Die „Obstdiebin“ist die idealische Handke-Figur, eine Doppelgängerin seines Dichtens, und es ist von einigem selbstironischen Witz, dass er es am Ende nicht nur zur Hochzeit zwischen Bruder und Schwester (Dichter und Figur?), sondern auch zum DoppelgängerKampf mit Momenten der „Totschlagwut“kommen lässt: Wo zwei sich ineinander verwandeln, wächst die Verwechslungsgefahr. Sich verwandeln meint bei Handke sich verlieren, sich verirren. „Wie man sich verirrt, so erlebt man“, ruft dieses Buch am Ende, die letzten Worte lauten entsprechend: „Ewig seltsam.“
Ablesbar ist an dieser Lust am Verirren auch der Weg, den die Handke-Literatur genommen hat. In „Mein Jahr in der Niemandsbucht“(1994) wurde das Verwandeln „als ein einziges Würgen“erfahren, jetzt will es „Umschwung ins Höhere und Offene“sein, „ein Schwingen weg von all dem Definierten ins Undefinierbare“.
Der Zuwachs an Weltflucht ist unübersehbar: Die Literatur wird zum „Schrift-Zug hinter geschlossenen Lidern“, zum Flucht-Ort, zur Insel, zum Rück-Zug. Die vielen Bezüge auf Wolfram von Eschenbach sind nur das äußere Zeichen einer Dichtung im inneren Exil.
Ihr Hauptheld ist ohnehin, wie stets bei Handke, die Sprache, die „gute und schöne deutsche Sprache“. Und auch dieses Buch scheint mitunter einzig geschrieben, um sie hinaufzuheben in einen unermesslichen Himmel der Andeutungen, um überhaupt himmelhebende Worte zu finden. Es wird bei Handke „vorbeigeäugelt“, eine Handschrift „entflittert“, eine Tasche „emporgelupft“. Es wird von Spurlosigkeit, Augenmerk und Auskehr geredet. Stets drängt es den Text, wie die Obstdiebin, ins „wild verflochtene Quellgebiet“des Sprechens und Schreibens selbst, das es zu „durchqueren“gilt: „Etwas anderes kam nicht in Frage.“Etwas anderes hat Handke nie getan. Das Lesen wird so zur „heimlichen“Komplizenschaft. „Mit dem Lesen“, so wird von der Obstdiebin berichtet, „durch es, in ihm, kraft und dank seiner jemand schützen zu können und ihn tatsächlich zu schützen, ihn, um den es ihr ging, das war ihr Glaube.“Den Glaubenden macht er selig.