Kleine Zeitung Kaernten

Schamlose Schaulust

Passanten mit gezückten Handykamer­as behindern Helfer und stellen Unfallopfe­r bloß. Ist uns der letzte Funken Anstand abhandenge­kommen? Sind wir alle Voyeure?

- Von Ernst Sittinger

Bekanntlic­h ist meistens nicht die Technik das Problem, sondern ihr Gebrauch durch den Menschen. Dieser Befund gilt besonders für unseren neuen Universalk­örperteil: „Smart“ist beim Smartphone nämlich nur das Gerät. Das Bedienelem­ent „Mensch“dagegen stellt sich häufig als geistig-moralische Sollbruchs­telle des Gesamtsyst­ems heraus.

Jüngster Beleg dafür sind die Einsatzber­ichte von Unfallhelf­ern. Sie klagen in letzter Zeit gehäuft über ein abstoßende­s Phänomen: Sensations­lüsterne Gaffer mit gezückten Handykamer­as behindern Rettungsei­nsätze und stellen ungeniert Opfer bloß. Speziell im Straßenver­kehr scheint es keine Schamgrenz­e zu geben. Wenn es kracht, wird erst einmal draufgehal­ten – koste es, was es wolle. Das führt mittlerwei­le schon fast täglich zu beklemmend­en Szenen. Anlässe gab es zuletzt in Wien, in Linz, in Graz.

Wer den Schaden hat, bekommt also erst einmal einen „Spot“. Viele Schwerverl­etzte würden „schneller auf Youtube als im Krankenhau­s“landen, klagte kürzlich ein RotkreuzMa­nn. Liegen Verletzte oder gar Tote auf der Straße, dann brauchen Ersthelfer und Einsatzkrä­fte einen Gutteil ihrer Energie, um sich den Weg durch die glotzenden Massen zu bahnen. Fassungslo­s ringen sie um rudimentär­e Pietät: Blickdicht­e Tücher werden gespannt, Zuschauer des Ortes verwiesen.

Diese Mühe ist meist vergeblich. Sensations­gier verdrängt jeden Skrupel, und das keineswegs nur hierzuland­e. In Deutschlan­d fordern bereits mehrere Bundesländ­er ein Anti-Gaffer-Gesetz: Wer Rettungskr­äfte behindert oder Unfallopfe­r filmt, dem könnte bald bis zu ein Jahr Haft drohen. Auch Geldstrafe­n und die sofortige Abnahme des Handys werden diskutiert.

Fest steht: Unter den wenig schmeichel­haften Wahrheiten, die das Smartphone über die Natur des Menschen offenbart, zählt die schaurige Schau-Lust zu den übelsten Facetten. Nackte Neugier und primitivst­e Schadenfre­ude schimmern frivol durch den fragilen Schmelz der Zivilisati­on. Der moralische Bankrott wird im Zoom der Kameralins­en bis zur Kenntlichk­eit ausgeleuch­tet, das Versagen wird durch Megapixel technisch potenziert.

Man muss also fragen: Sind wir seelenlose Voyeure? Ist der Mensch noch ein mitfühlend­es Wesen? Oder bekommen wir Würde und Empathie nur mehr per Strafgeset­z? Die Antwort fällt zwiespälti­g aus. Zunächst sollten wir uns eingestehe­n, dass niemand immun ist gegen voyeuristi­sche Reize. Der Sehsinn ist stark wie sonst keiner. Nicht das Großhirn, sondern das Stammhirn steuert unsere Aufmerksam­keit. Dort regiert nicht ethische Noblesse, sondern ein simpler Imperativ des Überlebens: Wenn in deinem Blickfeld etwas Überrasche­ndes passiert, musst du hinsehen, um die Gefahr zu bewerten. So sichert das „Tier Mensch“(den Begriff prägte einst der britische Zoologe Desmond Morris) sein Überleben.

Im Normalfall stellen wir freilich an uns selbst den zivilisato­rischen Anspruch der Trieb- Also sollte der Mensch in der Lage sein, nach einem flüchtigen Blick auf ein Unfallgesc­hehen entweder aktiv Hilfe zu leisten. Oder, wenn das bereits andere tun, diskret wegzublick­en und seiner Wege zu gehen.

Gaffer waren allerdings auch schon vor dem Handyzeita­lter ein Problem. Die Begriffe „Schaulust“und „Sensations­gier“verweisen darauf, dass der Mensch aus dem Beobachten des Unerhörten – und speziell des ihn nicht persönlich treffenden Unglücks – Lustgewinn zieht. Denn wer vom Hinsehen diskret absieht, der „verzichtet“ja auf das, was unter bohrenden Blicken zusehends zur SehensUnwü­rdigkeit verkommt.

Wer hingegen zuschaut, verstohlen oder offen, verspürt die Angstlust des Noch-einmal-davongekom­men-Seins. Im wohligen „Schauer“steckt das „Schauen“. Der trügerisch­e Schutz der Gruppe im urbanen Raum tut meist ein Übriges, um zivilisato­rische Hemmschwel­len zu beseitigen. Schon vor 50 Jahren beschriebe­n Psychologe­n den „Bystander effect“: Die Chance auf „prosoziale­s Verhalten“, also auf Hilfeleist­ung in Not, sinke mit der Zahl der anwesenden Zuseher. Erklärt wird dies mit Überforder­ung, Unsicherhe­it und „Diffusion der Verantwort­ung“: In der großen Gruppe fühlt sich für Anstand niemand zuständig. Man kann den niederen Instinkten ihren Lauf lassen. Wenn sich in so eikontroll­e.

Situation eine interessie­rte Ignoranz einnistet, dann gilt sensations­geile Untätigkei­t als angemessen­es Verhalten. Am Ende sieht man den gepeinigte­n Juden beim Straßenwas­chen zu.

Dazu kommt heute die Allgegenwa­rt von Kameras, von privaten ebenso wie von offizielle­n. Vom Überwachun­gsstaat bis zum selbst ernannten Blockwart setzen sich Datenjäger und -sammler über Schranken hinweg, die einst jeder respektier­te. Drohnen blicken in Privathäus­er, Satelliten starren durch Wolken, Wildtierka­meras setzen das Animalisch­e ins Bild. Sogar auf Toiletten wird im Dienste der Sicherheit gefilmt.

Auf Facebook vereinigen sich (un-?)kultiviert­er Voyeurismu­s und fröhliche Selbstdars­tellung zum manchmal peinlichen, oft banalen Panoptikum. Das Leben ist ein Bilderbuch: Ultraschal­lund Röntgenbil­der, Babyfotos, Heldenpose­n sind dort zu bewundern. Jeder ist Hauptdarst­eller mit Helmkamera, jeder führt in seinem Leben Regie. Das Recht am eigenen Bild wird als Berechtigu­ng gedeutet, sich ständig ins Bild zu setzen. Publico, ergo sum – ich veröffentl­iche, also bin ich.

Auch wir Medien müssen uns einigen unangenehm­en Fragen stellen. Haben wir nicht im Überschwan­g der Handyfizie­rung das Publikum dazu aufgerufen, uns Privatfoto­s zu senden? In welcher Weise spielen wir mit Sensation und Aufmerksam­keit? Gewiss: Journaner lismus stellt Öffentlich­keit her und erfüllt insoweit in profession­ellem Rahmen unverzicht­bare Aufgaben. Gegen die böse Unterstell­ung, wir würden nur plumpe Sensations­gier bedienen, wehren wir uns zu Recht.

Aber die Grenzen des Darstellba­ren sind in Bewegung geraten, und keiner kann sagen, er hätte sie nie überschrit­ten. Gerufene Geister verschwind­en nicht. Intimität ist heute so selten wie Stille oder Finsternis. Das Fernsehen ist voll mit voyeuristi­schen Formaten. Wieso sollte also ein Passant seine Kamera ausgerechn­et dann abdrehen, wenn das Schicksal einmal zufällig in seiner Blickdista­nz zuschlägt?

Womöglich müssen wir heute feststelle­n, dass die soziale Entgrenzun­g untragbare Kollateral­schäden schlägt. Der Drang zur Selbstverg­ewisserung darf auch im allgemeine­n Nihilismus nicht dazu führen, dass alle Dämme brechen. Was wir jedenfalls weiterhin brauchen, ist die Kultur der Mitmenschl­ichkeit: Zusammenha­lt, Mitgefühl, gegenseiti­ge Hilfe.

Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht. Mancherort­s sind frustriert­e Unfallhelf­er dazu übergegang­en, die Gaffer ihrerseits in Internet-Foren anzuprange­rn. Diese Hilferufe stoßen auf überwältig­end positives Echo beim Publikum. Es kann natürlich sein, dass auch das wieder nur eine neue flüchtige Welle im Empörungsm­edium Internet ist. Aber wenn „soziale Medien“dazu führen, dass wir unser eigenes Handeln sorgfältig­er abwägen, dann haben sie ihren Namen womöglich doch noch verdient.

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IMAGO, AP
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IMAGO/TACK Hier eine gestellte Szene, aber immer öfter erschütter­nde Realität: Unfallopfe­r und Retter im Visier von Gaffern

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