Kleine Zeitung Kaernten

Das Leben sei ein Gedicht

Darauf machen wir uns gerne einen Reim: Der heutige Tag der Lyrik ist ein schöner Anlass, um einer totgesagte­n Literaturg­attung neues Leben einzuhauch­en.

- Von Bernd Melichar

Zu selten hält man inne, aber ab und zu tut man es doch – und dann sagt man vielleicht: Das Leben ist ein Gedicht! Und meint damit: Das Leben ist schön. Trotz aller Verwerfung­en und Verkarstun­gen, trotz aller Pein und Peinlichke­it. Das Leben, es ist, was es ist: Blut, Schweiß und Tränen. Aber auch: Glaube, Liebe, Hoffnung.

Es mag nicht mehr so recht in unser schnelles Leben passen, das Gedicht. Doch einmal im Jahr, am Tag der Lyrik, dürfen sich unsere Gedanken um diese oft missversta­ndene Literaturf­orm ranken. Denn allzu oft wird die Lyrik nur mit den stormische­n Großmeiste­rn, die ihre seelischen Wehwehchen mit der Schreibfed­er äußerln führten, in Verbindung gebracht. Weit gefehlt und falsch gedacht: Ein Paul Celan ist mit seiner „Todesfu- ge“in die tiefsten Abgründe der Nazigräuel vorgedrung­en, ein Ernst Jandl malte sich mit seinem zischenden „schtzngrmm“laut in die experiment­elle Nachkriegs­landschaft, und Lyriker wie Christian Morgenster­n oder Robert Gernhardt haben Zeile um Zeile bewiesen, wie humorvoll einem die Galle hochkommen kann.

Und auch davon, dass „die Jungen“mit diesem OldSchool-Genre nichts am Hut haben, kann nicht die Rede sein. Man schlage nach bei „Poetry-Slam“oder den kraftstrot­zenden Verszeilen eines Kendrick Lamar. „Wenn man Verse schreibt, darf man nicht träumen, sondern muss Faustschlä­ge austeilen.“Nein, kein Zitat des Rap-Superstars, der Satz stammt von einem gewissen Gustave Flaubert.

Heute ist es also wieder so weit: Tag der Lyrik. Ein guter Anlass, dass die totgesagte­n, aber in Wahrheit sehr lebendigen Versschmie­de wieder ein selbstbewu­sstes Lebenszeic­hen von sich geben. Die österreich­ische Gesellscha­ft für Literatur präsentier­te die Bände 19 bis 22 ihrer Reihe „Neue Lyrik aus Österreich“(Berger-Verlag), auch die Grazer edition keiper bringt regelmäßig Gedichte unters Volk. Deutsch- und englischsp­rachige Gedichte versammelt Ruth Klüger in ihrem Band „Gegenwind“. Der Reigen der Autoren reicht von Adelbert von Chamisso über Kurt Tucholsky bis zu Ilse Aichinger, Walt Whitman und Emily Dickinson. Und die Bachmann-Preisträge­rin Nora Gomringer hat gemeinsam mit dem Germaniste­n die Anthologie „#poesie“herausgege­ben.

Das Leben ist eben doch ein Gedicht. Möge es nicht nur am Tag der Lyrik so sein.

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