Das Schiff, das Europa zum Kentern bringen könnte
In der Flüchtlingsfrage verschieben sich innerhalb der EU die Grenzen. In Deutschland geht das Thema Migration an die Belastungsgrenze der Koalition.
Um halb zwölf sagt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Plenarsaal Worte, die ganz harmlos klingen. Aber er kündigt damit eine Regierungskrise in Berlin an, die den Tag zu einem historischen macht. „Ich unterbreche die Sitzung“, sagt Schäuble. Kanzlerin Angela Merkel eilt vom nahen Kanzleramt in den Reichs- Sie nimmt einen der versteckteren Aufzüge und verschwindet in dem großen Fraktionssaal. Sie ist eine der Hauptfiguren dieses Dramas. Die andere, Innenminister und CSU-Chef Horst Seehofer, nimmt den Weg über die Fernsehkameras. Er nickt freundlich und bedächtig und geht mit großen Schritten durch eine Glastür, in einen anderen Saal. CDU und CSU haben kurzfristig zu getrennten Sitzungen gerufen. Schon die Tatsache an sich ist außergewöhnlich. Dass dafür eine Parlamentssitzung unterbrochen wird, erst recht.
Alexander Dobrindt, der CSU-Landesgruppenchef, fasst das dann in Worte: „Wir stehen vor einer historischen Situation“, sagt er. „Wir wollen eine Neuordnung des Asylrechts.“Das mag man historisch nennen. Wirklich einschneidend ist etwas anderes: CDU und CSU, Merkel und Seehofer, haben sich so tief in ihren neuen Streit um die Flüchtlinspoli- tik verstrickt, dass alles möglich ist: ein Rausschmiss Seehofers, ein Rücktritt Merkels.
Aber nicht nur in Deutschland bilden sich Risse in der politischen Landschaft. Die ganze EU ist in der Flüchtlingsfrage gespalten. Die Mittelmeerländer fühlen sich im Stich gelassen. Die Irrfahrt der Aquarius, des Flüchtlingsbootes mit mehr als 600 Menschen an Bord, das von Italien nicht mehr angenommen worden war und sich auf dem Weg nach Spanien befindet, hat für viele das Fass zum Überlaufen gebracht. Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos appelliert fast flehentlich an die Solidarität der Mitgliedsstaaten: „Es geht nicht um eine theoretische Frage. Es geht um Menschen. Niemand glaubt, dass das allein in der Verantwortung Italiens oder Maltas liegt, das Flüchtlingsthema betrifft ganz Europa.“Die Aquarius habe in Erinnerung gerufen, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe: „Alle müssen solidarisch sein.“
Doch danach schaut es nicht aus. Statt europäischer Lösuntag. gen zeichnen sich nationale Alleingänge ab; Bundeskanzler Sebastian Kurz hat unmittelbar vor der Übernahme der Ratspräsidentschaft auf höheres Tempo gedrängt. Der Personalausbau für die Grenzschutzagentur Frontex (eine Aufstockung auf 10.000 Mann) sei bis 2027 vorgeschlagen, das komme zu spät. Ein rascherer Ausbau würde die Mitgliedsstaaten aber sofort belasten.
Dabei spricht kaum jemand von Geld. Es geht um die Strategie. Angela Merkel hält immer noch eine Länderquote zur Aufteilung der Flüchtlinge für sinnvoll, doch inzwischen sind nicht nur die Osteuropäer dagegen. Auch Österreich lehnt das ab. Und
Italien, das sich, wie
Griechenland und
Malta,
seit Jahren alleingelassen fühlt, hat mit der AquariusVerweigerung ein noch deutlicheres Signal gesetzt – und scheut auch nicht den offenen Konflikt mit dem Nachbarn Frankreich. Präsident Emmanuel Macron hatte zunächst von „Zynismus“gesprochen. Später ruderte er zurück, er habe „nicht darauf abgezielt, Italien und das italienische Volk zu kränken“.
Spanien geht andere Wege. Man wolle die umstrittenen messerscharfen Klingen an den Grenzzäunen der AfrikaExklaven Ceuta und Melilla entfernen, erklärte Innenminister Fernando GrandeMarlaska. „Wenn wir von der Achtung der Menschenwürde reden, müssen wir bei der Kontrolle der Migrationsströme auch mit den Behörden der Herkunftsländer zusammenarbeiten und helfen“, sagte er. Dieser Ansatz hat für die EU-Staaten Priorität: Auch Merkel, die immer noch für ihre „Willkommenspoli- kritisiert wird, spricht inzwischen von „Fluchtursachenbekämpfung“.
Letzte Woche erst, bei der Tagung der Europäischen Volkspartei in München, wurde das Thema Migration als Kerninhalt des kommenden Wahlkampfs zu den Europawahlen festgelegt. Dort hatte Sebastian Kurz ausdrücklich gesagt, es könne keine nationalen Antworten auf die großen Fragen geben, die Flüchtlingskrise mache die Spannungen innerhalb der EU immer größer. Doch in Deutschland stehen die Zeichen nun auf Sturm. Innenminister Seehofer will Flüchtlinge schon an der Grenze zurückweisen. Angela Merkel hält an einer gesamteuropäischen Lösung fest und will Zeit gewinnen, um Alternativvorschläge auszuarbeiten, die für alle akzeptabel sind – etwa zunächst einmal nur eine Zurückweisung von Flüchtlingen, die in Deutschland schon einmal einen negativen Bescheid erhalten haben. Innerhalb des CDU-Präsidiums stellte man sich inzwischen hinter die Kanzlerin, samt der in dem Zusammenhang kryptischen Formulierung, die Kanzlerin wolle „im Umfeld des Europäischen Rates mit den am stärksten vom Migrationsdruck betroffenen Ländern Vereinbarungen treffen“. Damit gewinnt der nächste EUGipfel Ende Juni in Brüssel – der letzte vor Beginn der österreichischen Ratspräsidentschaft – an Brisanz.
Nicht nur innerhalb der Mitgliedsstaaten werden die Gräben immer weiter, auch an anderen Stellen droht Ungemach. Rumänien und Bulgarien etwa drängen in den Schengen-Raum, würden also zu Schengen-Außengrenzen werden, allerdings hapert es dort noch mit der Korruption und ausreichender Rechtssicherheit. Albanien wiederum, das gerne zur Union stoßen möchtik“ te, hatte zuletzt ein Ansteigen der durchziehenden Flüchtlinge registriert und braucht Hilfe – Österreich hat die Entsendung von Polizeikräften versprochen. Die Türkei, die rund 3,5 Millionen Flüchtlinge vor allem aus Syrien beherbergt, wartet auf die Überweisung von weiteren drei Milliarden Euro aus Europa – mehrere Staaten, darunter auch Österreich und Italien, wollen ihren Beitrag zu dieser Summe nicht leisten.
In Summe ist derzeit gegenüber der ersten Hälfte des Vorjahres nur ein Bruchteil von Asylsuchenden unterwegs, Kommissar Avramopoulos sprach von einem Rückgang um 77 Prozent. Doch erfahrungsgemäß steigt der Zustrom in den warmen Sommermonaten wieder an. Unklar ist, ob eine deutliche Verschärfung des Außengrenzschutzes in der Zeit unmittelbar davor zu einem massiven Anstieg der Migrantenzahlen führen würde – zu befürchten ist es.