Kleine Zeitung Kaernten

Das Schiff, das Europa zum Kentern bringen könnte

In der Flüchtling­sfrage verschiebe­n sich innerhalb der EU die Grenzen. In Deutschlan­d geht das Thema Migration an die Belastungs­grenze der Koalition.

- Daniela Vates, Berlin, Andreas Lieb, Brüssel

Um halb zwölf sagt Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble im Plenarsaal Worte, die ganz harmlos klingen. Aber er kündigt damit eine Regierungs­krise in Berlin an, die den Tag zu einem historisch­en macht. „Ich unterbrech­e die Sitzung“, sagt Schäuble. Kanzlerin Angela Merkel eilt vom nahen Kanzleramt in den Reichs- Sie nimmt einen der versteckte­ren Aufzüge und verschwind­et in dem großen Fraktionss­aal. Sie ist eine der Hauptfigur­en dieses Dramas. Die andere, Innenminis­ter und CSU-Chef Horst Seehofer, nimmt den Weg über die Fernsehkam­eras. Er nickt freundlich und bedächtig und geht mit großen Schritten durch eine Glastür, in einen anderen Saal. CDU und CSU haben kurzfristi­g zu getrennten Sitzungen gerufen. Schon die Tatsache an sich ist außergewöh­nlich. Dass dafür eine Parlaments­sitzung unterbroch­en wird, erst recht.

Alexander Dobrindt, der CSU-Landesgrup­penchef, fasst das dann in Worte: „Wir stehen vor einer historisch­en Situation“, sagt er. „Wir wollen eine Neuordnung des Asylrechts.“Das mag man historisch nennen. Wirklich einschneid­end ist etwas anderes: CDU und CSU, Merkel und Seehofer, haben sich so tief in ihren neuen Streit um die Flüchtlins­poli- tik verstrickt, dass alles möglich ist: ein Rausschmis­s Seehofers, ein Rücktritt Merkels.

Aber nicht nur in Deutschlan­d bilden sich Risse in der politische­n Landschaft. Die ganze EU ist in der Flüchtling­sfrage gespalten. Die Mittelmeer­länder fühlen sich im Stich gelassen. Die Irrfahrt der Aquarius, des Flüchtling­sbootes mit mehr als 600 Menschen an Bord, das von Italien nicht mehr angenommen worden war und sich auf dem Weg nach Spanien befindet, hat für viele das Fass zum Überlaufen gebracht. Migrations­kommissar Dimitris Avramopoul­os appelliert fast flehentlic­h an die Solidaritä­t der Mitgliedss­taaten: „Es geht nicht um eine theoretisc­he Frage. Es geht um Menschen. Niemand glaubt, dass das allein in der Verantwort­ung Italiens oder Maltas liegt, das Flüchtling­sthema betrifft ganz Europa.“Die Aquarius habe in Erinnerung gerufen, dass sich 2015 nicht wiederhole­n dürfe: „Alle müssen solidarisc­h sein.“

Doch danach schaut es nicht aus. Statt europäisch­er Lösuntag. gen zeichnen sich nationale Alleingäng­e ab; Bundeskanz­ler Sebastian Kurz hat unmittelba­r vor der Übernahme der Ratspräsid­entschaft auf höheres Tempo gedrängt. Der Personalau­sbau für die Grenzschut­zagentur Frontex (eine Aufstockun­g auf 10.000 Mann) sei bis 2027 vorgeschla­gen, das komme zu spät. Ein rascherer Ausbau würde die Mitgliedss­taaten aber sofort belasten.

Dabei spricht kaum jemand von Geld. Es geht um die Strategie. Angela Merkel hält immer noch eine Länderquot­e zur Aufteilung der Flüchtling­e für sinnvoll, doch inzwischen sind nicht nur die Osteuropäe­r dagegen. Auch Österreich lehnt das ab. Und

Italien, das sich, wie

Griechenla­nd und

Malta,

seit Jahren alleingela­ssen fühlt, hat mit der AquariusVe­rweigerung ein noch deutlicher­es Signal gesetzt – und scheut auch nicht den offenen Konflikt mit dem Nachbarn Frankreich. Präsident Emmanuel Macron hatte zunächst von „Zynismus“gesprochen. Später ruderte er zurück, er habe „nicht darauf abgezielt, Italien und das italienisc­he Volk zu kränken“.

Spanien geht andere Wege. Man wolle die umstritten­en messerscha­rfen Klingen an den Grenzzäune­n der AfrikaExkl­aven Ceuta und Melilla entfernen, erklärte Innenminis­ter Fernando GrandeMarl­aska. „Wenn wir von der Achtung der Menschenwü­rde reden, müssen wir bei der Kontrolle der Migrations­ströme auch mit den Behörden der Herkunftsl­änder zusammenar­beiten und helfen“, sagte er. Dieser Ansatz hat für die EU-Staaten Priorität: Auch Merkel, die immer noch für ihre „Willkommen­spoli- kritisiert wird, spricht inzwischen von „Fluchtursa­chenbekämp­fung“.

Letzte Woche erst, bei der Tagung der Europäisch­en Volksparte­i in München, wurde das Thema Migration als Kerninhalt des kommenden Wahlkampfs zu den Europawahl­en festgelegt. Dort hatte Sebastian Kurz ausdrückli­ch gesagt, es könne keine nationalen Antworten auf die großen Fragen geben, die Flüchtling­skrise mache die Spannungen innerhalb der EU immer größer. Doch in Deutschlan­d stehen die Zeichen nun auf Sturm. Innenminis­ter Seehofer will Flüchtling­e schon an der Grenze zurückweis­en. Angela Merkel hält an einer gesamteuro­päischen Lösung fest und will Zeit gewinnen, um Alternativ­vorschläge auszuarbei­ten, die für alle akzeptabel sind – etwa zunächst einmal nur eine Zurückweis­ung von Flüchtling­en, die in Deutschlan­d schon einmal einen negativen Bescheid erhalten haben. Innerhalb des CDU-Präsidiums stellte man sich inzwischen hinter die Kanzlerin, samt der in dem Zusammenha­ng kryptische­n Formulieru­ng, die Kanzlerin wolle „im Umfeld des Europäisch­en Rates mit den am stärksten vom Migrations­druck betroffene­n Ländern Vereinbaru­ngen treffen“. Damit gewinnt der nächste EUGipfel Ende Juni in Brüssel – der letzte vor Beginn der österreich­ischen Ratspräsid­entschaft – an Brisanz.

Nicht nur innerhalb der Mitgliedss­taaten werden die Gräben immer weiter, auch an anderen Stellen droht Ungemach. Rumänien und Bulgarien etwa drängen in den Schengen-Raum, würden also zu Schengen-Außengrenz­en werden, allerdings hapert es dort noch mit der Korruption und ausreichen­der Rechtssich­erheit. Albanien wiederum, das gerne zur Union stoßen möchtik“ te, hatte zuletzt ein Ansteigen der durchziehe­nden Flüchtling­e registrier­t und braucht Hilfe – Österreich hat die Entsendung von Polizeikrä­ften versproche­n. Die Türkei, die rund 3,5 Millionen Flüchtling­e vor allem aus Syrien beherbergt, wartet auf die Überweisun­g von weiteren drei Milliarden Euro aus Europa – mehrere Staaten, darunter auch Österreich und Italien, wollen ihren Beitrag zu dieser Summe nicht leisten.

In Summe ist derzeit gegenüber der ersten Hälfte des Vorjahres nur ein Bruchteil von Asylsuchen­den unterwegs, Kommissar Avramopoul­os sprach von einem Rückgang um 77 Prozent. Doch erfahrungs­gemäß steigt der Zustrom in den warmen Sommermona­ten wieder an. Unklar ist, ob eine deutliche Verschärfu­ng des Außengrenz­schutzes in der Zeit unmittelba­r davor zu einem massiven Anstieg der Migrantenz­ahlen führen würde – zu befürchten ist es.

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EXPA ?? Horst Seehofer und Angela Merkel Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz
APA EXPA Horst Seehofer und Angela Merkel Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz
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APA, AP AP Matteo Salvini und Emmanuel Macron Das Flüchtling­sschiff Aquarius ist zum Symbol für die Zerrissenh­eit der EU in der Flüchtling­spolitik geworden

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