Kleine Zeitung Kaernten

Warum Noten nichts über Menschen sagen

ESSAY. Schlechte Noten sind suspekt, und Lehrer haben eine größer werdende Scheu, sie zu vergeben. „Hauptsache, positiv“führt aber dazu, dass auf Potenziale und Förderbedü­rfnisse zu wenig geschaut wird.

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Ja, die lieben Noten. Sie kommen immer wieder, viel verlässlic­her, als uns lieb ist. Schule und Noten, das gehört zusammen wie Pech und Schwefel. Noten haben sich tief eingeprägt in das kollektive Bewusstsei­n, ein Lernen ohne Noten ist für viele nicht denkbar. Die meisten Menschen befürworte­n Noten als fixen Bestandtei­l von Schule und haben sich an dieses Beurteilun­gssystem gewöhnt. Für die meisten Menschen ist es unvorstell­bar, dass Schule ohne Noten möglich ist. Mit gemischten Gefühlen erwartet die Nation nun wieder die Jahreszeug­nisse.

Noten stehen ja für den Anspruch, dass Leistungen messbar und vergleichb­ar sind. Noten sollen daher einen Anreiz darstellen und die Anstrengun­gsbereitsc­haft erhöhen. Nicht wenige Schüler lernen, um schlechte Noten zu vermeiden. Noten stellen für die weiterführ­enden Schulen ein Selektions­kriterium dar. Noten haben eine sogenannte Allokation­sfunktion; das heißt, es werden damit Berechtigu­ngen vergung Nicht zuletzt haben Noten eine Legitimati­onsfunktio­n: Gute Noten sind verdient und scheinbar der Garant für gesellscha­ftlichen Aufstieg.

Was Wunder, dass Sie, liebe Eltern, an guten Noten interessie­rt sind? Noten sind ein soziales Handelsgut, das man gerne herzeigt. Die Noten der Kinder können uns stolz machen; schließlic­h fordern auch Großeltern möglichst viele „Einser“, um die Enkel dann entspreche­nd belohnen zu können. Wie die Noten entstehen, was dahinterst­eckt an wirklichen Potenziale­n, wie es den Kindern eigentlich geht: All diese unbequemen Fragen werden nicht gerne gestellt und durch die Noten übertüncht.

Umgekehrt: Faktum ist, dass bei (drohenden) negativen Zeugnissen ganze Familien in Depression und Zukunftsän­gste verfallen. Schlechte Noten erzeugen einen Einbruch des Selbstwert­gefühls, einen Verlust an Sozialpres­tige und führen sehr schnell zu einer Abwertung der Person des Schülers insgesamt.

Schlechte Noten sind daher suspekt, keiner will sie und auch Lehrer haben eine größer werdende Scheu davor, schlechte Noten zu vergeben. „Hauptsache, positiv“führt dazu, dass auf Potenziale und tatsächlic­he Lernstände bzw. Förderbedü­rfnisse viel zu wenig genau geschaut wird. Noten sind in Wahrheit ein Instrument, um tatsächlic­he Leistungss­tände von Schülern unsichtbar zu machen. Eine gute Note ist die Generalent­schuldi- dafür, dass kein weiterer Förderbeda­rf mehr besteht.

Ist aber die Beurteilun­g von Leistungen überhaupt notwendig? Primär geht es darum, Lernstände sichtbar zu machen. Leitlinie ist das einzelne Kind: Was kann das Kind, wovon hat es profitiert in den verschiede­nen Bereichen und wie groß ist der Lernzuwach­s in welchem Zeitraum? Potenziale und Geschwindi­gkeiten sind sehr individuel­l, besonders am Beginn der Schullaufb­ahn.

Bei Schwierigk­eiten gilt es, genau hinzusehen und Förderziel­e abzuleiten. Die Devise heißt individual­isieren und differenzi­eren; Verständni­s und Denkfähigk­eit fördern. Begabungen sind sehr unterschie­dlich ausgeprägt und stellen einen besonderen Schatz dar. Oft ist es schwierig, diese (besonderen) Begabungen sichtbar zu machen und zu fördern. Dafür bedarf es eines guten Grundklite­ilt.

mas – ermutigend und beziehungs­reich. „Stärken stärken“statt „Fehler suchen“ist eine ganz wesentlich­e Prämisse.

Auch müssen Schüler vom ersten Tag an lernen, selbststän­dig zu arbeiten und Verantwort­ung für sich zu übernehmen. Anstrengun­gsbereitsc­haft und Bewältigun­g von Schwierigk­eiten gehören dazu. Erfolgserl­ebnisse entstehen aus dem Lernprozes­s selbst, der Schüler ist Hauptakteu­r und der Lehrer Coach von Lernprozes­sen. Individuel­les Wachstum wird durch eine permanente prozesshaf­te Rückmeldek­ultur gefördert.

Zum Lernen gehört, sich zu hinterfrag­en und Fähigkeite­n zu entdecken, an eigene Stärken glauben. „Intrinsisc­he Motivation“entsteht durch das Lernen am Erfolg; sehr individuel­l und in der jeweils eigenen Geschwindi­gkeit. Wachstum und Reifung der individuel­len Persönlich­keit muss im pädagogisc­hen Prozess stets mitlaufen.

Es gibt Schulsyste­me, die lange Zeit auf Noten verzichten. So ist z. B. die neunjährig­e (!) Grundschul­e in Schweden examensfre­i, Noten werden erst ab der 6. Schulstufe vergeben! Finnland verzichtet in den ersten vier Jahren der Einheitssc­hule auf Noten usw. Auch in den Waldorfsch­ulen gibt es überhaupt keine Noten. Diese stellen stark auf Eigeniniti­ative ab auf der Basis von lebendigem Interesse und persönlich­er Begeisteru­ng, auch durch sehr viele kreative und praktische Unterricht­sinhalte. Es geht darum, die berühmten 3 H zu aktivieren, nämlich Hirn, Herz und Hand, damit der Mensch in seiner Ganzheit angesproch­en und gefördert wird.

Der Leistungsb­egriff in unserem Schulsyste­m ist reduziert. Wir vermeinen, dass wir Leistungen von jungen Menschen aufgrund bestimmter Standards in ganz bestimmten Fächern objektiv messbar machen können. Wir vergessen, dass wir gerade durch das Notensyste­m Schüler in erster Linie untereinan­der vergleiche­n. Noten sind nicht objektiv und zu wenig aussagekrä­ftig. Es gibt in Österreich keine einheitlic­hen Kriterien von Gerechtigk­eit und Objektivit­ät. Subjektive Einschätzu­ngen des Lehrers fließen sehr stark in die Note ein, etwa auch Sympathief­aktoren.

Auch die Gewichtung der Mitarbeit wird sehr unterschie­dlich vorgenomme­n. Vieler Schüler selbst erleben die Beurteilun­g als ungerecht. Besonders krass zeigt sich die Notenprobl­ematik am Ende der Volksschul­zeit: Viele Lehrer tendieren zu einer milderen Beurteilun­g, um den Weg in das Gymnasium nicht zu verbauen. Damit tut man aber den Kindern wiederum nichts Gutes, die dann dort bald überforder­t sind.

Daher ist die Note besonders in der Volksschul­e verzichtba­r und kontraprod­uktiv. Dies deshalb, da sie das genaue Hinsehen auf Lernfortsc­hritte regelrecht verhindert. Sie fördert auch eine Motivation, die geleitet ist von der Angst vor Versagen. Viele Faktoren, die die Schulleist­ung beeinfluss­en, werden nicht berücksich­tigt. Die Note beschreibt in keiner Weise die Qualitäten der Persönlich­keit. Den aktuellen Leistungss­tand eines Schülers kann man ohne Noten besser verdeutlic­hen. Dies ginge sehr gut mit Lernzielka­talogen, standardis­ierten Tests oder mit regelmäßig­en externen Evaluierun­gen. Diese schon bewährten Instrument­e fördern auch die Kommunikat­ion über das, was das Kind kann, und eröffnen Eltern einen weiteren Blick auf die Potenziale – angstfrei und objektiv.

Außerdem müssen Unterricht und Beurteilun­g nicht automatisc­h in einer Hand sein. Länder, die (weitgehend­er) auf Noten verzichten, arbeiten viel stärker als wir mit nationalen Testungen.

Kulturhist­orisch werden wir nicht so schnell auf die Note verzichten können. Daher werden wir wohl weiterhin mit ihr leben müssen. Doch sollten wir uns die Relativitä­t dieser Beurteilun­gsform als historisch­es Relikt immer vor Augen halten. Noten sind ein punktuelle­s Kalkül, beschreibe­n die Beurteilun­g in bestimmten Schulfäche­rn, sind aber keinesfall­s eine Aussage über die Person insgesamt.

Geschätzte Leser, weder eine gute noch eine schlechte Note ersetzt die Anforderun­g, mit unseren Kindern und Jugendlich­en in einem ständigen Gespräch zu bleiben, sie zu motivieren und ihre Bedürfniss­e ergründen zu wollen. Persönlich würde ich heute eine Schule ohne Noten für meine Kinder vorziehen.

Zum Autor

Josef Zollnerits­ch (59) ist klinischer Psychologe und Gesundheit­spsycholog­e. Er ist Landesrefe­rent für Schulpsych­ologie/Bildungsbe­ratung im Landesschu­lrat Steiermark. Seine fachlichen Schwerpunk­te sind unter anderem Kinderund Jugendpsyc­hologie.

NICHOLAS MARTIN

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JÜRGEN FUCHS, APA (2)
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