Kleine Zeitung Kaernten

Ein Urteil und viele offene Fragen

Der NSU-Prozess ist zu Ende. Die Hauptangek­lagte Beate Zschäpe wurde des zehnfachen Mordes für schuldig befunden und zu lebenslang­er Haft verurteilt. Doch ein Schlussstr­ich ist das nicht.

- Von Arno Widmann aus Berlin

Am 23. Februar 2012 hielt Bundeskanz­lerin Angela Merkel eine Rede, in der sie erklärte: „Wir nehmen nicht hin, dass Menschen Hass, Verachtung und Gewalt ausgesetzt werden. Wir tun dies, weil wir entschiede­n gegen jene vorgehen, die andere wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe und Religion verfolgen.“Sie hielt die Rede auf einer Gedenkvera­nstaltung für die Opfer der Neonazi-Terrorgrup­pe NSU. In dieser Rede erklärte sie auch den Hinterblie­benen der Opfer des „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­es“: „Als Bundeskanz­lerin verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzukläre­n und die Helfershel­fer und Hintermänn­er aufzudecke­n und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständige­n Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“

All diese Behörden haben bis auf den heutigen Tag keine Helfershel­fer und Hintermänn­er entdeckt. Das gestrige Münchner Urteil ist das Urteil in einem Prozess, der sich auf die Suche nach den Hintermänn­ern expressis verbis nicht einließ. Das Gericht übernahm die Lesart der Staatsanwa­ltschaft, der zufolge der NSU aus nicht mehr als drei Personen bestehen sollte. Die vier weiteren Angeklagte­n wurden als einzige Helfershel­fer verurteilt.

Das Gericht ist den Ausführung­en von Beate Zschäpe nicht gefolgt. Die hatte nach mehr als 200 Tagen Schweigen erklärt, sie sei nicht in die Planungen ihrer beiden Gefährten eingeweiht gewesen, habe immer erst nachträgli­ch von den Taten erfahren. Zschäpe wurde wegen zehnfachen Mordes zu lebenslang­er Haft verurteilt. Die schriftlic­he Begründung des Urteils liegt noch nicht vor. Beate Zschäpes Anwälte haben bereits erklärt, dass sie Revision beantragen werden.

Man stelle sich vor, das Gericht hätte sich Beate Zschäpes Version angeschlos­sen. Sie wäre dann wegen Brandstift­ung verurteilt worden und hätte, da sie schon fünf Jahre in U-Haft gesessen hatte, gestern sofort freigelass­en werden müssen.

Der Prozess hat zu der von Bundeskanz­lerin Merkel versproche­nen Aufklärung fast nichts beigetrage­n. Er wurde allerdings von Anfang an so zugeschnit­ten, dass genau die Fragen, um die es bei jeder ernsthafte­n Auseinande­rsetzung mit der Erfolgsges­chichte des NSU gehen muss, gerade nicht verhandelt wurden. Weder wurde das Sympathisa­ntenumfeld untersucht, noch die merkwürdig­en Vorfälle in den Verfassung­sschutzämt­ern, geschweige denn die V-Leute, die einmal „zufällig“dabei waren, einmal auffällig gut Bescheid wussten. Dass in den von Angela Merkel angesproch­enen Behörden meterweise Akten zum NSU geschredde­rt wurden, war im Münchner Prozess auch kein Thema.

Das Münchner Gericht hat keines der von der Kanzlerin genannten drängenden Probleme aufgeklärt. Weder wissen wir, ob die zehn Ermordeten die einzigen Opfer waren. Noch wissen wir, warum der NSU 2007 aufhörte mit dem Morden. Wurden die mehr als 20 Waffen, die man bei ihnen fand, nie genutzt? Warum entschiede­n sie sich ausgerechn­et für diese Opfer? Unter rund 10.000 von ihnen notierten möglichen Anschlagsz­ielen? Das sind die Fragen zum NSU, die ungeklärt sind. Ebenso ungeklärt sind die nach dem Versagen der Nachrichte­ndienste. Solange sich nicht auch mit ihnen die Gerichte beschäftig­en, solange bleibt die Furcht, sie hätten nichts aus der – teilweisen – Aufdeckung der NSU-Morde gelernt, als dass sie straffer geführt und besser koordinier­t werden müssen.

Das genügt nicht. Es signalisie­rt den von Angela Merkel angesproch­enen „Helfershel­fern und Hintermänn­ern“: weiter so! Hinzu kommt, dass sich die politische­n Verhältnis­se – nicht

in der Bundesrepu­blik – in den vergangene­n fünf Jahren deutlich verändert haben. Die, die „andere wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe und Religion verfolgen“, sitzen inzwischen im Bundestag. Sie tun das, weil Millionen Bundesbürg­er ihnen ihre Stimme gegeben haben, für die die Vernichtun­g von Millionen Menschen nur ein Vogelschis­s ist in der Geschichte, die Einwanderu­ng aber eine Katastroph­e darstellt.

Der Schrecken über die Taten des Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­es dauerte nicht lange. Die Behörden machten weiter business as usual und schreddert­en Akten, bevor Untersuchu­ngsausschü­sse eine Chance hatten, womöglich selbst zu beurteilen, ob darin Aufklärung zu finden war über „Helfershel­fer und Hintermänn­er“. Die Taten des NSU warfen ein grausiges Licht auf die Bundesrepu­blik. Das Verhalten der deutschen Behörden erhöhte nicht das Vertrauen in die demokratis­chen Institutio­nen.

Der Nationalso­zialistisc­he Untergrund und unser Umgang mit ihm markiert einen Wendenur punkt in der Geschichte. Die Jahre, die Beate Zschäpe in Untersuchu­ngshaft verbrachte, sind Achsenjahr­e. Nationalso­zialistisc­he Reden werden heute in aller Öffentlich­keit von gut situierten Bürgern geführt. Nicht mehr bevorzugt von jugendlich­en Haudraufs.

Und das – fast – überall in Europa. Im November 2011 gab es viel zu viele, die so naiv waren, die NSU-Morde als die Tat ausgeflipp­ter Einzelner zu betrachten. Sie wurden nicht gesehen als Aktion einer Gruppe von Menschen, die in einem bestimmten Milieu sich in diese Richtung entwickelt hatte. Das war, als es Jahrzehnte zuvor um den Terrorismu­s der Roten Armee Fraktion ging, ganz anders. Da wurde der Fokus sofort auf das „Sympathisa­ntenumfeld“eingestell­t.

Man erinnere sich an die Verve, mit der die einschlägi­gen Behörden sich sogar Heinrich Böll vorknöpfte­n. Nichts Vergleichb­ares geschah nach dem November 2011, als die NSUTaten bekannt wurden.

Man wird darum zögern, nur von Naivität zu sprechen. Die Augen zu schließen vor dem Rechtsradi­kalismus und seiner Gewaltbere­itschaft, passt zu gut in die Geschichte der Bundesrepu­blik und ihrer Dienste.

Die Auseinande­rsetzung wird von Jahr zu Jahr wieder schwierige­r. Der Kampf gegen die, „die andere wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe und Religion verfolgen“, war schon immer mehr eine Redenschre­iber-Disziplin als die Praxis der für unser aller Sicherheit Zuständige­n. Misstrauen ist eine der wichtigste­n Bürgertuge­nden. Aber natürlich auch die Bereitscha­ft, sich von guten Argumenten und – noch besser – von guten Taten überzeugen zu lassen.

Wir lebten lange in dem Irrtum, der Rechtsstaa­t sei einfach da. Das ist er so wenig wie die Demokratie. Sie sind beide auf unseren Einsatz angewiesen. Vor allem: Man darf sie nicht gegeneinan­der ausspielen. So sehr das auch immer wieder versucht wird. Wir verteidige­n den Rechtsstaa­t, wenn wir die Demokratie verteidige­n, und die Demokratie, wenn wir den Rechtsstaa­t verteidige­n. Der Rechtsstaa­t wird geschützt, indem er genutzt wird. So berechtigt die Kritik am Zuschnitt des Münchner Prozesses ist, so wichtig ist es, noch andere Prozesse zu führen. Man wird nicht jedes Mal 600 Zeugen befragen müssen. Es würde schon viel helfen, wenn die Verfassung­sschutzämt­er Befragunge­n ihrer V-Leute ermögliche­n würden.

2014 veröffentl­ichten Stefan Aust und Dirk Laabs „Heimatschu­tz – Der Staat und die Mordserie des NSU“. Der letzte Satz des 864-Seiten-Wälzers lautete: „Dieses Buch soll ein Anfang sein und nicht das letzte Wort.“Auch das Münchner Urteil – vier schlimme Jahre später – darf nur ein Anfang sein.

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APA Beate Zschäpe wirktim Gerichtssa­al, als habe sie mit derHöhe der Strafe nichtgerec­hnet

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