Geschmack der Vielfalt.
INTERVIEW. In der einfachen Küche Europas offenbart sich Schönheit und Reichtum des Kontinents. Der Grenzverleger Lojze Wieser spürte dem Geschmack der Vielfalt nach.
Für Lojze Wieser offenbart sich in der einfachen Küche Schönheit und Reichtum Europas.
Herr Wieser, Sie sind seit vielen Jahren jenseits der Grenzen unterwegs, waren im Karst, in Epirus, der Lausitz, in Flandern und dem spanischen Galizien. Wie schmeckt Europa?
LOJZE WIESER: Der Geschmack Europas ist so reichhaltig und vielfältig wie seine unzähligen Regionen und die Menschen, die sie bevölkern. Europa, das sind Berge, Täler, Ebenen, Flüsse und das Meer, aber auch Sonne, Regen, Schnee und Nebel. Es ist schier unmöglich, alle Geschmäcker Europas zu kennen. Manche erlebt die Zunge als vertraut, andere als unbekannt, ja fremd.
Gibt es dennoch etwas, was ihnen gemeinsam ist?
Nirgendwo sonst auf der Welt existieren auf so engem Raum so viele sprachliche und kulturelle Besonderheiten, gibt es eine so ungeahnte Diversität an Ideen wie in Europa. In der Vergangenheit haben wir uns gegenseitig erklärt, warum wir nichts miteinander zu tun haben. Noch vor 30, 40 Jahren war viel von den Nationalküchen die Rede, der Cuisine française oder der Cucina Italiana. Um das Jahr 2000 bin ich mit Freunden in ein Restaurant in Warschau geraten, dessen Wirt sich rühmte, alle Nudeln der Welt auf der Speisekarte zu haben. Wir haben gut drei Dutzend Gerichte bestellt. Doch was auf Tellern, Schüsseln und Platten dann gereicht wurde, in Dampf gegart, gesiedet oder gebraten, ob polnische Piroggen, Gailtaler Krapfen oder friulanische Cjalzons, es waren stets Variationen derselben Idee. Das Geheimnis war immer das Gleiche. Mehl, Wasser und Salz.
Und trotzdem ist jedes dieser Gerichte für sich einzigartig. Wie erklären Sie sich das?
Mit der schöpferischen Kraft, mit der unsere Vorfahren über Jahrtausende auf die oft kargen Möglichkeiten reagiert haben, die ihnen die Natur, die Wirtschaft und ihre Mitmenschen boten. Wir haben in Kärnten noch vor achtzig Jahren die Angewohnheit gehabt, drei bis vier Mal im Jahr groß zu feiern. gab es ja nicht viel Anlass dazu. Das waren der Kirchtag, Ostern, Weihnachten, Geburt oder Tod. Da sind die Leute zusammengekommen und auf den Tisch wurden Wunderwerke des Geschmacks gezaubert. Wir Kinder haben nur so gestaunt, was für Schätze in der Speisekammer der Eltern und Großeltern versteckt waren. Heute bin ich überzeugt davon, dass in den Speisen Europas die gesamte intellektuelle Kraft der Vergangenheit gespeichert ist. Ja, in Wahrheit gebührt der Friedensnobelpreis Europas Köchinnen, den Müttern und Großmüttern, die aus dem Mangel schöpfend ihrer Sippe das Überleben gesichert haben, ohne dass sie dafür jemals ausgezeichnet worden wären.
Hat der Überfluss so gar keinen Reiz für Sie, kann Lojze Wieser die Haubenküche gestohlen bleiben?
In keinster Weise! Aber es sind zwei entgegengesetzte Pole. Ein guter Haubenkoch schafft es, aus traditionellen Zutaten ein neues Gericht zu kreieren, das er sich dann teuer abkaufen lässt. In Flandern habe ich Leute getroffen, die dafür, dass sie dem Sternekoch durch eine Glasscheibe zuschauen durften, 500 Euro auf den Tisch legen. Und dann bin ich auf meinen Streifzügen in Gegenden gekommen, wo die Zeit stehen geblieben schien, auch im Sinne kulinarischer Urtümlichkeit. Eines meiner schönsten Erlebnisse hatte ich in den Bergen von Montenegro, in Njeguˇsi, wo ich von Würsten kosten durfte, die den Geschmack der Würste meiner Kindheit hatten, weil sie bis zum heutigen Tag ohne die üblichen chemischen Zusatzstoffe hergestellt werden. In Siebenbürgen habe ich mit einem alten Sachsen Bohnschoten ausgelöst und auf der Alm einem Hirten dabei geholfen, mit dem Messer das Lamm aus der Decke zu schlagen, das er uns zu Ehren geschlachtet hat.
Ist es das, was Sie auf Ihren Reisen suchen, das Urtümliche?
Mir geht es um das Verschüttete. Man soll nicht unterschätSonst
zen, was an Elementarem damit verbunden ist. Ich denke etwa an die wichtige Frage nach Leben und Tod in der Nahrungsgewinnung. Als man bei uns noch zu Hause geschlachtet hat, hat man das Blut der Sau in einer Schüssel aufgefangen und zur Blutwurst verarbeitet. In Nordgriechenland kocht man bis heute mit Blut. In hoch entwickelten Regionen wie der Schweiz will man damit dagegen nichts mehr zu tun haben. Es soll versteckt werden. Diese Entfremdung von Mensch und Speise kann bizarre Blüten treiben. Auf der Leipziger Buchmesse haben wir Prˇsut aus dem Karst aufgeschnitten. Kommt eine Schulklasse daher und bestaunt die Keulen mit den Schweinszehen. Und ein Bub ruft: „Aber ein Schinken ist doch verpackt im Supermarkt!“
Erklärt der Verlust des Wissens um diese Zusammenhänge die moralische Aufladung, ja die Hysterie, die bestimmte Ernährungsweisen wie das Vegane begleiten?
Bei mir zu Hause hat es gehei- wenn du die Sau beim Abstechen nicht am Schwanz hältst, gibt’s keine Wurst. Das ist vorbei. Stattdessen lässt sich in Europa ein Widerspruch beobachten zwischen dem Reichtum an natürlichen Lebensmitteln und ihrer Zerstörung in der industriellen Produktion, wo alles Gute abgetötet wird, ehe es auf den Teller kommt. Bei manchen Leuten führt diese Reibung dann halt zu einer fundamentalistischen Verengung.
Europa ist beides. Es ist Analogkäse auf der Pizza und es ist Slow Food. Lässt sich dieser Widerspruch überhaupt lösen?
Das weiß ich nicht. Aber der Gegensatz wird immer stärker, auch weil wir es gewohnt sind, rasches Essen zu uns zu nehmen, Fast Food und Halbfertigprodukte. Wir erleben eine Verkehrung des Essens, die Kehrseite sind die Kocharenen im Fernsehen mit der sich darin widerspiegelnden Sehnsucht nach dem Heimeligen. Aber weltweit läuft alles auf Großindustrien zu. Die EU fördert diese Unkultur. Setzt man ihr nichts entgegen, wird der Schaden für die Menschen groß sein. Die zentrale Frage lautet, wie ein neues wirtschaftliches Denken geschaffen werden kann, um mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gutes Essen auch für das Wohlsein der breiten Massen zu liefern. Im steirischen Vulkanland glückt das wieder. Dort produzieren die Enkel der alten Bauern auf kleinteiligen Flächen wieder Qualitätsweine und stecken das, was ihre Großeltern aufgegeben haben, um in die Fabrik nach Graz zu fahren, in die Pflege des Regionalen.
Was ist gutes Essen?
Schon mit wenigen Kräutern, mit Luststock, Estragon, Thymian, Ysop, Bohnenkraut, Basilikum, Sternanis, einer Gewürznelke, etwas Zimt, Pfeffer und Salz und einer Zwiebel lässt sich für eine Woche im Voraus eine hervorragende, gesunde Suppe kochen, die man mit Zucchini, Karotten oder Sellerie verfeinern kann. Jedes Gastßen, haus, das heutzutage auf Tiefkühlkost umsteigt, könnte das mit Leichtigkeit schaffen.
Was ist ein gutes Gasthaus?
Eines mit Wirtsleuten, die den Gast als Menschen wahrnehmen, einer Küche mit einem ordentlichen Sparherd und einer Speisekarte mit nicht mehr als fünf ehrlichen Gerichten.
Was ist Ihre Lieblingsspeise?
Lachen Sie nicht, es ist Polenta mit Kaffee! Dafür nehme ich einen Teil Polenta, drei Teile Wasser, eine Teil Rahm, salze, rühre die Polenta ins kochende Wasser ein, Deckel zu. Eine Dreiviertelstunde auf kleiner Flamme ziehen lassen. Kaffee in einen Teller. Ordentlich zuckern. Polenta in den Kaffee. Essen. Die Frau Schillinger aus der Südoststeiermark reibt die fertige Polenta wie Spätzle in eine Schüssel und gießt zerlassenes Schweinefett drüber. Den Kaffee trinkt man im Häferl dazu. Das ist einmalig. Es ist der Moment, wo Leben und Kunst eins werden.