Auf der anderen Seite
Ausgerechnet der ehemalige Revolutionär und Freiheitskämpfer Daniel Ortega kämpft heute als autoritärer Machthaber in Nicaragua erbittert gegen das eigene Volk.
Geschichte wiederholt sich eben doch. Das kann man erschreckend deutlich gerade in dem kleinen zentralamerikanischen Staat Nicaragua sehen, dem Herzland aller Achtzigerjahre-Linken. Seit mehr als drei Monaten kämpfen dort vor allem junge Menschen für Demokratie, Freiheitsrechte und gegen eine Regierung, die zunehmend diktatorisch agiert und die Polizei, Paramilitärs und Panzerwagen einsetzt gegen Studenten, die sich hinter steinernen Barrikaden verstecken und vor allem handgemachte Waffen haben. Kommt einem bekannt vor. 1978 kämpfte ein junger Daniel Ortega, gerade etwas über 30 Jahre alt, gemeinsam mit Dichtern und Denkern, Sängern, Malern und anderen Revolutionären für Demokratie, Freiheitsrechte und gegen den kalten Schlächter Anastasio Somoza. Und als sie und ihre Sandinistische Befreiungsfront am 19. Juli 1979 obsiegten und Nicaragua frei war, da überschüttete die Welt das kleine Land in Mittelamerika mit Sympathie und SolidaritätsBrigaden. Es war so, als würden die Uhren wieder auf null gestellt.
Nun haben wir 2018 und Daniel Ortega ist immer noch da. Nur steht er dieses Mal auf der anderen Seite der Barrikaden. Dieses Mal ist er es, der anordnet, auf die Aufständischen zu schießen. Mehr als 300 Tote sind seit Beginn der Proteste gegen die ehemals linke sandinistische Regierung am 18. April zu beklagen.
Keiner der vielen gefallenen linken Helden Lateinamerikas hat einen so weiten Weg ins Unrecht hinter sich, wie der 72 Jahre alte Nicaraguaner. Nicht Hugo Chávez seinerzeit in Venezuela, nicht einmal sein Nachfolger Maduro, auch nicht Lula da Silva in Brasilien oder Cristina Kirchner in Argentinien. Alle können oder konnten sie nicht von der Macht lassen, haben sich bereichert, bei Bestechung weggeschaut oder ihr Land in Armut und Chaos gezerrt. Aber Ortega ist vom Freiheitshelden zum Unterdrücker geworden. Und dieser Tage hallt in den Straßen ganz Nicaraguas das Mantra der Proteste wider: „Daniel y Somoza son la misma cosa“– „Daniel und Somoza sind das Gleiche“. 39 Jahre nach dem Sieg der Revolution ist die ganze Welt nur noch entsetzt. Die UNO, fast ganz Lateinamerika, die Europäische Union, Musiker, Schriftsteller, Sportler – alle fordern ein Ende dessen, was die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“als das „größte Blutbad der vergangenen O 30 Jahre in der Region“geißelt. rtega gleicht sich tatsächlich immer mehr dem Diktator an, den er einst zu vertreiben half. Nur dass der Sandinist seine Familiendynastie noch ein bisschen moderner und breiter aufgestellt hat. Seine Frau Rosario Murillo ist Vize-Präsidentin und soll den kränkelnden Präsidenten einmal ablösen. Alle neun Kinder Ortegas und Murillos haben wichtige Positionen inne. Internationalen Druck lässt Ortega an sich abperlen wie sein Kumpel Maduro. Die Aussichten auf einen Sieg der Oppositionellen sind gering. Aber das waren sie vor 40 Jahren zunächst auch.