Die Katastrophe von Genua
Mit der Morandi-Brücke stürzt eine der wichtigsten Verkehrsachsen Italiens ein. Mindestens 35 Menschen sterben, das ganze Land ist geschockt.
Mitten in der Haupturlaubszeit ist auf einer stark befahrenen Autobahn in Genua eine vierspurige Brücke eingestürzt. Während eines starken Regengusses gab das Polcevera-Viadukt aus den 60er-Jahren, Morandi-Brücke genannt, am späten Vormittag plötzlich nach. Mindestens dreißig Autos und mehrere Lkw stürzten auf einem 100 Meter langen Abschnitt über einem Industrie- und Wohngebiet in die Tiefe. Das Unglück forderte mindestens 35 Tote, darunter ein kleines Mädchen. Insgesamt 14 Verletzte wurden in den ersten Stunden aus den Trümmern gerettet, darunter fünf Schwerverletzte.
viele Urlauber verwandelte sich die Fahrt auf einer der spektakulärsten Autobahnen Europas mit ihren in unglaublicher Höhe an Tunnelröhren anschließenden Brücken in ein Inferno. Wer überlebte, musste dem Einsturz hilflos zusehen.
„Oh Gott, oh Gott!“, schreien Augenzeugen beim Anblick der für sie unfassbaren Tragödie, als Autos und Brückenteile in das hundert Meter tiefer gelegene Tal stürzen. „Ich habe Menschen barfuß und voller Angst auf mich zurennen sehen, als ich aus dem Tunnel fuhr“, berichtet Alberto Lercari, ein Fahrer des städtischen Busunternehmens, der unmittelbar nach dem Einsturz kurz vor der Unglücksstelle noch rechtzeitig bremsen konnte.
Davide Ricci war auf der Straße am unter der Autobahn verlaufenden Polcevera-Bach mit dem Auto unterwegs, als er sah, wie die einen Kilometer lange BrüFür
in sich zusammenfiel: „Es war, als hätte der Blitz eingeschlagen.“Erst sei der Pfeiler wie zu Staub zerfallen. „Dann kam der ganze Rest herunter.“
Spürhunde suchten fieberhaft unter den in die Tiefe gestürzten Betonteilen nach Überlebenden. „Das ist die Hölle!“, riefen Einsatzkräfte, die sich bemühten, Verletzte aus unter Trümmern begrabenen Wagen zu ziehen. Bewohner von Häusern unterhalb der Brücke wurden von herabstürzenden Trümmern erschlagen. Wer überlebte, wurde mit schweren Quetschungen an Kopf, Wirbelsäule und mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert. Mindestens fünfzig weitere wurden wegen Einsturzgefahr der Häuser evakuiert. Allein der Parkplatz einer Fabrik war zum Zeitpunkt des Unglücks wegen der Ferienzeit leer.
Die Noteinsatzzentrale Genua berichtete von einem Unglück von „epochalen Dimensionen“. Unter den Dutzenden Tote seien jene, die von der Brücke gestürzt seien, und andere, die in den darunterliegenden Häusern von Trümmern erschlagen worden seien. Anfangs behinderten starke Regenfälle die Rettungsarbeiten. Überdies musste das Einsatzgebiet wegen eines geplatzten Gasrohrs und infolgedessen Excke
Es sind Tragödien,
die in einem zivilisierten Land wie Italien nicht passieren dürfen.
Danilo Toninelli, Italiens neuer Verkehrsminister, beklagt die mangelhafte Instandhaltung
kurzzeitig evakuiert werden.
Neben Schwerverletzten versorgten die Gesundheitsbehörden auch traumatisierte Augenzeugen. Eltern und Kleinkinder konnten nicht anders, als zuzusehen, wie andere Familien in den Tod gerissen wurden.
Am Tag vor Ferragosto, Italiens wichtigstem Sommerfeiertag, waren auf der ohnehin stark befahrenen Autobahn zwischen Genua und Nizza besonders viele Urlauber unterwegs. Es habe keinen Hinweis auf eine akute Gefahr gegeben, betonte die örtliche Feuerwehr unmit- nach dem Unglück auf der vierspurigen Autobahn als Begründung, warum es keine Sperrung gab. Während Transportminister Danilo Toninelli sich bestürzt über die Tragödie äußerte, dankte Innenminister Matteo Salvini den Hunderten an den Einsatzort geeilten Hilfskräften. Aufgrund der Schwere des Vorfalls wurde umgehend der nach starken Erdbeben vorgesehene Katastrophenfall ausgerufen, Einsatzkräfte aus benachbarten Regionen einberufen und Krankenhäuser nicht nur in Ligurien, sondern auch in Piemont und in der Lombardei in Alarmbereitschaft versetzt.
Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe reisten Ministerplosionsgefahr präsident Giuseppe Conte und sein Stellvertreter Luigi Di Maio noch am selben Tag an den Unglücksort. Verkehrsminister Toninelli wollte die Überlebenden und Verletzten am nächsten Tag besuchen.
„Es gab keine Hinweise, dass die Brücke gefährlich war“, bemühte sich der Chef der Autobahngesellschaft, Giovanni Castellucci, Spekulationen über den Zustand der Brücke im Keim zu ersticken. Die Brücke war 1967 eingeweiht worden und musste bereits in den ersten Jahren wiederholt ausgebessert werden. Wegen einer entfernten Ähnlichkeit mit der berühmtesten New Yorker Brücke war der Ponte Morandi auch als Brooktelbar lyn Bridge bekannt. Die Stahlseile wurden bereits während der 80er- und 90er-Jahre ersetzt. Auch zum Zeitpunkt des Einsturzes wurden Konsolidierungsarbeiten an einem Pfeiler durchgeführt. Sie seien ständig im Hinblick auf die Statik kontrolliert worden, teilte die Autobahngesellschaft mit. Die Unglücksursache werde sobald wie möglich aufgeklärt.
Bauingenieure der Universität Genua hatten offenbar bereits vor Jahren darauf hingewiesen, dass die Instandsetzungsarbeiten an der Brücke bald teurer werden könnten als ein Abriss und Neubau. Die Tatsache, dass die Autobahn direkt durch die
dicht besiedelte Stadt zwischen Meer und steilen Bergen führt, macht die Fahrt von Frankreich nach Genua zwar für Reisende zu einem unvergesslichen Erlebnis aus Tunneln und Brücken, die sich an einer Stelle gar in einer Schleife in die Höhe winden. Autobahnbauer stellt die enge Metropole dagegen vor enorm hohe Herausforderungen. In den Schrecken und die Anteilnahme am Leid der Betroffenen mischten sich daher umgehend Fragen danach, wie es geschehen konnte, dass eine Brücke an einer so stark befahrenen Autobahn einstürzen konnte.
Italienische Autobahnbetreiber sind verpflichtet, einen Teil der Einnahmen aus Mautgebüh- ren in Modernisierung und Instandsetzung zu investieren. Der Zustand des Straßenbelags lässt vielerorts auf mangelnde Investitionen schließen. Während Autofahrer in Italien zwar an Schlaglöcher gewöhnt sind, mussten sie sich bislang jedoch noch nie Sorgen über die Statik der vielen Brücken der Bergautobahnen machen. Nach dem Ende der Rettungs- und Bergungsaktionen von Genua dürfte nun eine Überprüfung des Zustandes anderer Autobahnbrücken anstehen. Allein die Autobahn, die von Genua nach Rom führt, verfügt über zahlreiche Brücken, die den korrodierenden Kräften der salzigen Meeresluft ausgesetzt sind.