Rückbesinnung vor der Kamera
Versäumte Gelegenheiten. Harald Schwinger hat mit seiner 79-jährigen Mutter mögliche Rollenbilder der Vergangenheit inszeniert.
Wer ist (war) meine Mutter? Eine Frage, die sich viele stellen mögen und auf die es nicht unbedingt schlüssige Antworten gibt. Harald Schwinger, Autor von Erzählungen und dramatischen Texten sowie freischaffender Kulturpublizist, hat den Versuch unternommen, sich seiner Mutter zu nähern, um die Stimmigkeit seiner eigenen Bilder von ihr zu überprüfen. Denn die meisten Menschen haben Vorstellungen von ihren Müttern, die den Blick auf das wesenhafte Individuum trüben. Wahrgenommen werden Modelle, die wohl dem eigenen Denken, kaum aber der Realität entsprechen. Bedeutungshüllen und Muster decken zu, was der Persönlichkeit entsprechen könnte.
Ein Anlass für Harald Schwinger darüber nachzudenken, dass seine „Mutter sich mit zunehmenden Alter immer öfter darüber beschwerte, nicht das Leben geführt zu haben, das sie gerne geführt hätte“. Ein Grübeln über versäumte Gelegenheiten. Was wäre gewesen wenn? Allein: Geschichte und die darin entwickelte Identität lassen sich nicht konjugieren.
Dennoch hat Schwinger hier angesetzt und mit seiner 79-jäh- rigen Mutter gleichsam eine Rückbesinnung vor der Kamera unternommen. Er hat mit ihr mögliche Rollenbilder der Vergangenheit inszeniert und sie unprätentiös in einer beachtenswerten Reihe von berührenden Fotos erzählt. Die Dame tritt in unterschiedlichsten Kostümierungen auf und vermittelt durch ihren Habitus ihr denkbares Anderssein. Vielleicht im Sinne von Öden von Horvàth: „Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu“. Die relativ herben, ungekünstelten Schwarz-Weiß-Bilder, im Stile von Polizeifotos, machen betroffen. Sie sind Appelle zur Selbstbefragung darüber, wie wir unsere Mutter wahrnehmen. Schwinger setzte zu den Bildern stimmige Zitate aus der Literatur, die einen möglichen sentimentalen Blick auf die Fotos konterkarieren. Der „Mutter“, die in diesem Falle auch eine Kunstfigur sein könnte, möchte man die Worte aus Goethes Faust in den Mund legen: „In jedem Kleide werd ich wohl die Pein des engen Erdenlebens fühlen. Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein.“
# Nelly (Bilder einer Mutter). Dinzlschloss, Schlossgasse, Villach. Geöffnet Mo-Do 8-12 und 13-16 Uhr, Fr. 8-12 Uhr. Bis 21. September.
Harald Schwinger: