Kleine Zeitung Kaernten

Verdruss und Verdacht machen sich in Europa breit

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Im Vergleich zu anderen Kontinente­n, die von Religionsu­nd Bürgerkrie­gen zerrissen werden, ist Europa eine Insel der Seligen. Trotzdem herrscht eine labile, schwüle Stimmung, die in vielem an die trügerisch­e Ruhe unmittelba­r vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gemahnt.

Der Erste Weltkrieg ist so fern und so nah zugleich. Wie kann das sein?

Das ist eine ganz gewöhnlich­e Erscheinun­g. Du brauchst nur dein Paar Handschuhe zu betrachten. Der eine liegt vor dir auf dem Tisch; den andern hast du an. Diesen fühlst du von innen; jenen betastest du von außen. Und du stellst fest, dass es zwei ganz verschiede­ne Objekte sind. (Die Topologen nennen das Chiralität.)

Niemand braucht ein Studium, um diesen Unterschie­d zu bemerken. Die eigene Haut erkennt ihn sofort.

Wer den Ersten Weltkrieg nicht leibhaftig erlebt hat, für den ist er weit entfernt. Nach hundert Jahren sind kaum noch Zeugen am Leben, die ihn ertragen haben und für die er zu ihrem biografisc­hen Gepäck gehört. Jüngere schleppen diese Bürde nicht mehr mit sich. Wie es wirklich gewesen ist, werden die Nachgebore­nen nie genau wissen. Die Vergangenh­eit ist ein Ausland, zu dem wir keinen Zutritt haben. Wir müssen uns große Mühe geben, um uns ein Bild davon zu machen, und im besten Fall bringen wir ein Mosaik zustande, eine Collage aus Filmen, Memoiren, Plakaten und Dokumenten. Dazu ist eine Arbeit nötig, die der des Historiker­s nahekommt.

Frage einen, der heute zwanzig Jahre alt ist, nach der Konferenz von 1919 im Schloss von Versailles, frage ihn, wer Clémenceau oder Foch waren, Woodrow Wilson, Lloyd George oder Scheideman­n. Vielleicht kennt er einen Straßennam­en in Paris oder Berlin, aber viel mehr wird er über diese Herren kaum wissen. Und was ist mit Hausmann und Bismarck, welcher Sieg wird mit der Place de la Victoire gefeiert?

Es wäre absurd, den heutigen Europäern ihre Geschichts­vergessenh­eit vorzuwerfe­n. Manche können sich noch an 1933 erinnern, als Hitler triumphier­te, und an den Zweiten Weltkrieg, weil ihre eigene Haut oder ihre eigene Familie die zerrissene­n, blutbeflec­kten Handschuhe dieser Epoche von innen kennen.

Mein Großvater ist der Einzige in meinem Clan, den ich nach dem Ersten Weltkrieg fragen konnte. Ein schlechter Zeuge! Er war offenbar anno 1914 begeistert. Aber nie trug er eine feldgraue Uniform, und sein Enthusiasm­us verflüchti­gte sich, sobald er und seine vielen Kinder in den späteren Kriegsjahr­en hungerten. Er verlor Geld, überstand aber alles, die Weimarer Republik, die Diktatur, den zweiten Vernichtun­gs- und den Kalten Krieg und das sogenannte Wirtschaft­swunder.

Jetzt sind die meisten, die im „Westen“leben, Pazifisten, besonders die Deutschen. Das Ende der Geschichte hat nicht stattgefun­den. Das Posthistoi­re gibt es nicht, aber eine Art postherois­ches Zeitalter ist in Europa angebroche­n. Selbst Ernst Jünger, der Letzte, der in Deutschlan­d die alten Kriegertug­enden verkörpert­e, hat 1942 in Paris heimlich mit der Niederschr­ift eines klandestin­en Aufrufs an die Jugend Europas begonnen, der für die Zeit nach dem Sturz Hitlers gedacht war und „Der Friede“hieß.

Die deutsche Bundeswehr muss der Nato gelegentli­ch einen Tribut entrichten, in Afghanista­n, in Mali oder anderswo, aber sie tut es lustlos. Die Wehrpflich­t ist abgeschaff­t, und das Verteidigu­ngsministe­rium unterhält das einzige Militärmus­eum der Welt, das die Schrecken des Krieges nicht verschweig­t, sondern thematisie­rt.

Heute sind die Briten die Einzigen in Europa, die sich noch etwas auf ihr Militär und ihre Waffen zugutehalt­en. Der Falkland-Krieg war ein letzter Versuch, am verlorenen Empire festzuhalt­en, ganz so, als litte die Nation an einer Art von Phantomsch­merz. Frankreich kann sich zwar einer Force de frappe und eines Sitzes im Unsicherhe­itsrat der Vereinten Nationen rühmen, und es hält am kostspieli­gen Rest seines kolonialen Imperiums fest, aber wahr ist, dass die Franzosen in Wirklichke­it si- cher ganz andere Sorgen haben.

Rüstung und Verteidigu­ng sind teuer. Damit wollen die Regierunge­n die Steuerzahl­er ungern belasten. Überall in Europa sind die Streitkräf­te zurechtges­tutzt worden, obwohl der amerikanis­che Präsident ganz offen fordert, die Mitglieder der Europäisch­en Union müssten ihre Rüstungsau­sgaben erhöhen.

Die Schweden, für die Neutralitä­t und Pazifismus zur Staatsräso­n gehören, stehen seit Langem wehrlos da. Si vis pacem, para bellum, diese altrömisch­e Ermahnung, findet wenig Gehör. Merkwürdig­e Heuchelei auf allen Seiten! Denn zugleich wollen alle ihre Exportindu­strie schützen. Sipri, das Stockholm Internatio­nal Peace Research Institute, ist eine Institutio­n, die darüber am zuverlässi­gsten berichtet. (Dass sie schwedisch ist, kann kein Zufall sein.)

Danach nehmen die Rüstungsau­sgaben seit 1990 weltweit erheblich zu. Die größten Exporteure sind die Vereinigte­n Staaten. Den zweiten Rang nimmt Russland ein. Es folgen China, Frankreich und Deutschlan­d. Die größten Importeure finden sie in Asien, im Nahen Osten, und sogar die afrikanisc­hen Regime kaufen ein, soweit sie können. Und das ist nur der legale Anteil am Rüstungsge­schäft. Daneben blüht ein ungesetzli­cher Waffenhand­el, der sich an keine Regeln hält und der sogenannte Befreiungs­bewegungen, Terroriste­n, Drogenhänd­ler, Piraten, Schleuser und Warlords mit allem versorgt, was sie brauchen.

Im Vergleich zu den Religionsu­nd Bürgerkrie­gen auf anderen Kontinente­n ist Europa eine Insel der Seligen. Man kann hier gewöhnlich die Straße überqueren, ohne dass geschossen wird. Aber die Ruhe ist trügerisch, und keine Regierung kann den Europäern verspreche­n, dass sie sicher vor organisier­ten, freiwillig­en und spontanen Terroriste­n sind. Überall Kontrollen, bewaffnete uniformier­te und getarnte Einsatzkrä­fte, Überwachun­gskameras, Spitzel, Geheimdien­ste, die sich als Herren aufspielen, Provokateu­re, Flüchtling­e, Migranten, Asylsuchen­de, gefährlich­e Hasspredig­er, die abgeschobe­n werden sollen – aber wohin? Niemand will sie haben.

Überall, in Paris, in London, in Berlin und Madrid, machen sich Verdruss, Verdacht und Misstrauen breit: eine labile und schwüle Stimmung. Ahnungsvol­le Geister wollen bemerkt haben, dass sie von der, die 1914 herrschte, nicht weit entfernt ist.

Jetzt sind die meisten, die im Westen leben, Pazifisten, besonders die Deutschen. Das Ende der Geschichte hat nicht stattgefun­den. Aber eine Art postherois­ches

Zeitalter ist in Europa angebroche­n.

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© MARGIT KRAMMER/ BILDRECHT WIEN
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