Kleine Zeitung Kaernten

„Wer Flüchtling­e ablehnt, sollte wenigstens die Kinder nehmen“

Im Exklusiv-Interview mit den Bundesländ­erzeitunge­n warnt EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker davor, den Populisten nachzulauf­en. Von den Flüchtling­sverweiger­ern in der EU fordert er alternativ­e Solidaritä­t ein.

- Von Hubert Patterer

Wie war der Abend in der Felsenreit­schule?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Das Wiener Schnitzel war ausgezeich­net.

Und der inhaltlich­e Nährwert?

Die Vorschläge der Kommission zur Stärkung der EU-Grenzund Küstenwach­e sind auf breiten Zuspruch gestoßen. Einige Details müssen noch diskutiert werden, und die Minister im Rat der EU und das Europaparl­ament werden sich jetzt damit beschäftig­en. Ich bin aber zuversicht­lich, dass der Vorschlag vor Ende des Jahres angenommen wird. Was den Brexit angeht, wird die Kommission noch vor dem EU-Gipfel im Oktober die Grundzüge einer Erklärung zur künftigen Beziehung mit Großbritan­nien vorstellen. Davor brauchen wir deutliche Bewegung in der britischen Position, um die IrlandFrag­e abzuschlie­ßen.

Wieso findet die EU in der Migrations­frage nicht aus ihrer Selbstlähm­ung heraus?

Wir drehen uns etwas im Kreis. müssen uns mit den Reformen aber intensiv beschäftig­en. Eine Verstärkun­g des Schutzes der Außengrenz­en wird kommen. Die Frage der Umverteilu­ng der Flüchtling­e, wird, wenn alles so bleibt, nicht zu lösen sein. Ich habe deshalb einen Vorschlag gemacht, den ich selbst nicht so mag: Länder, die keine Flüchtling­e aufnehmen, sollen sich in anderen Bereichen, etwa bei der Finanzieru­ng des Grenzschut­zes, stärker engagieren. Und: Wer schon keine Flüchtling­e nimmt, der sollte zumindest unbegleite­te Minderjähr­ige versorgen. Ich glaube nicht, dass es in Ungarn oder Polen deshalb zu Protesten auf der Straße kommen würde.

Wie sind Sie mit der österreich­ischen Präsidents­chaft zufrieden?

Die Österreich­er machen das sehr gut: Sebastian agiert sehr umsichtig. Manchmal gibt es Zwischenzu­ngenschläg­e, die mir nicht so gefallen.

Was sagen Sie dazu, dass in Österreich eine Partei mit in der Regierung sitzt, die sich offen mit den extremen Nationalis­ten, etwa in Italien, verbündet?

Mir gefällt einiges nicht. Wir wissen, dass die FPÖ mit am Kabinettst­isch sitzt. Aber im Regierungs­programm ist ein proeuropäi­scher Kurs festgeschr­ieben. Und so handelt die österreich­ische Bundesregi­erung auch.

Nehmen Sie die FPÖ als proeuropäi­sche oder als europafein­dliche Partei wahr?

Es ist die FPÖ.

War die Einladung an Wladimir Putin zur Hochzeit der österreich­ischen Außenminis­terin Karin Kneissl ein Fehler?

Mit privaten Festen beschäftig­e ich mich nicht. Wer wen einlädt und wer kommt, spielt keine Rolle. Wenn ich noch einmal heiraten würde, würde ich Herrn Putin aber sicher nicht einladen.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Österreich?

Entspannt. Ich kenne das Land relativ gut. Ich mag die Menschen, ich mag den typisch ösWir terreichis­chen Hausversta­nd. Wenn es mehr davon in Europa gäbe, kämen wir in der Union besser voran.

Sie warnen vor dem Gift des Nationalis­mus. Reicht das?

Wenn ich vor Nationalis­mus und Populismus warne, dann warne ich vor allem davor, den Populisten nachzulauf­en und sie nachzuäffe­n. Die Leute wählen immer die Originale. Was man nicht darf, ist, die vielen Menschen, die europaskep­tisch sind, zu beschimpfe­n. Die sind nicht per se gegen Europa. Mit denen muss man reden. Aber stupide, bornierte Nationalis­ten sind kein Umgang.

Was wäre ein wirksames Gegengift?

Man darf den Nationalis­mus nicht einfach hinnehmen, man darf ihn nicht tolerieren. Man darf antisemiti­sche und rassistisc­he Aussagen nicht widerspruc­hslos hinnehmen.

An diesem Nationalis­mus könnte jetzt auch ein besserer Grenzschut­z scheitern.

Das hoffe ich nicht. Seit drei

Das Interview fand im Rahmen eines Treffens der Bundesländ­erzeitunge­n mit Jean-Claude Juncker in Salzburg statt. Für die Kleine Zeitung nahm Chefredakt­eur Hubert Patterer daran teil

Jahren wird überall in Europa nach einem besseren Grenzschut­z gerufen. Jetzt gibt es von der EU dazu Vorschläge und in einigen Ländern wird dagegen zu Felde gezogen. Da wird behauptet, dass dadurch die Souveränit­ät eingeschrä­nkt wird. Der Schutz der Außengrenz­en ist eine europäisch­e Angelegenh­eit. Deshalb muss hier mehr gemeinsam agiert werden.

Was sagen Sie zum Vorbehalt der Spanier, Griechen und Italiener, die um ihre Hoheitsrec­hte fürchten?

Es ist doch eine Hilfe, die von innen kommt. Aber egal, was man zum Schutz der Außengrenz­en vorschlägt, wie man es macht, es stößt nicht immer alles gleich auf spontane Zustimmung. Deshalb müssen wir weiterhin werben, erklären, überzeugen.

Fürchten Sie, dass an diesen Zerwürfnis­sen das europäisch­e Einigungsw­erk scheitern könnte?

Ich bin seit 30 Jahren in der Europapoli­tik unterwegs. Es gab keine Zeiten, wo Europa nicht in der Krise war. Trotz dieses Krisenmodu­s gibt es aber den Grundkonse­ns, dass es keine Alternativ­e zur Europäisch­en Union gibt.

Glauben Sie beim Brexit noch an eine Scheidung im Guten?

Wir nähern uns an. Aber die Grenzfrage in Irland ist sehr schwierig. Klar ist auch, dass es keinen Austritt aus der EU geben kann und alle Privilegie­n der Gemeinscha­ft erhalten bleiben. Brexit means Brexit. Aber auch zukünftig werden wir Britannien nicht feindselig gegenübers­tehen, sondern versuchen, einen Freihandel­sraum zu schaffen. Wir sind mit Großbritan­nien nicht im Krieg. Wir müssen aber vorsichtig sein wie zwei sich liebende Igel. Wenn sich zwei Igel umarmen, dann muss man aufpassen, dass es keine Kratzer gibt.

Soll es über den Austrittsv­ertrag in Britannien noch einmal eine Volksabsti­mmung geben?

Premiermin­isterin May hat hier in Salzburg klargestel­lt, es wird kein zweites Referendum geben. Allerdings muss das britische Parlament dem Austrittsv­ertrag zustimmen, so wie das EU-Parlament auch. Und nicht alles, was London gefällt, gefällt auch dem EU-Parlament. Man muss genau ausloten, wo die Schnittmen­gen liegen.

Was verliert Europa mit Großbritan­nien?

Man soll nicht alles so überdramat­isieren. Großbritan­nien bleibt ein wichtiger Handelsund Sicherheit­spartner für die EU. Wir verlieren mit den Briten aber ein Stück Pragmatism­us. Ich bedaure den Austritt deshalb sehr.

Die EU verliert in der Außenpolit­ik an Gewicht, sie verliert auch militärisc­he Stärke. Was bedeutet das für den Auftritt in der Welt?

Der Auftritt war schon jetzt schwierig. Weil außenpolit­ische Entscheidu­ngen in der EU einstimmig getroffen werden müssen, sind wir oft sprachlos. Ein Beispiel: Die EU kann bei der Menschenre­chtskommis­sion in Genf die Verletzung­en der Menschenre­chte in China nicht verurteile­n, weil ein Land dagegen ist. Ich habe vorgeschla­gen, in Fragen der Außenpolit­ik, etwa wenn es um die Menschenre­chte geht, auch mit qualifizie­rter Mehrheit zu entscheide­n, um wieder Sprachgewa­lt in der Welt zu erlangen.

Wie war die Resonanz?

Der Vorschlag ist noch nicht im Detail diskutiert worden. Die deutsche und die französisc­he Regierung unterstütz­en den Vorschlag ausdrückli­ch in ihrer gemeinsame­n Erklärung von Meseberg. Doch einfach wird es nicht. Man müsste auch exakt festlegen, für welche Bereiche dies gelten soll.

Es gibt einstimmig­e Beschlüsse, etwa zu den Russland-Sanktionen, aber einzelne Länder wie Österreich scheren aus, wie die Kneissl-Hochzeit gezeigt hat.

Dass Putin an einer Hochzeit teilnimmt, ist ja nicht das Ende der Russland-Sanktionen. Man zieht diese Frage viel zu hoch, das ist schon lächerlich.

Wäre es nicht sinnvoll, wenn etwa die EU im UNO-Sicherheit­srat mit einer Stimme sprechen würde?

Ich halte das für geboten, aber es wird nicht so schnell dazu kommen. Die Debatte ist noch nicht so weit, das wird vor allem in akademisch­en Zirkeln diskutiert. Ich habe einmal vorgeschla­gen, nachdem wir eine einheitlic­he Währung haben, beim Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) gemeinsam vorzugehen. Die Euroländer sind dort gemeinsam der größte Aktionär. Laut Statut müsste der Sitz des IWF in Frankfurt sein und nicht länger in Washington. Aber eigentlich wünsche ich mir eine Übersiedlu­ng nicht. Im April, aber auch im September und Oktober ist das Wetter in Washington viel besser als in Frankfurt. Jetzt gibt es wenigstens einen ständigen Eurogruppe­nvorsitzen­den. Wenn der gesprochen hat, habe ich geglaubt, dass alles gesagt ist. Aber dann kommen noch die 18 anderen und reden auch noch. Das ist die Lage.

Was sagen Sie dazu, dass Christian Kern auf die europäisch­e Bühne wechseln will?

Ich bin nicht Mitglied der SPÖ.

Wie geht es Ihnen mit den ins Auge gefassten Flüchtling­slagern in Afrika?

Mir geht es damit gut, den Afrikanern aber nicht. Wir können nicht in Brüssel entscheide­n, was die Afrikaner tun sollen. Im Jahr 2050 wird einer von vier Menschen auf der Welt Afrikaner sein, das muss uns klar sein. Ich bin der Meinung, dass man Afrika mehr unterstütz­en muss, auf mittlere Sicht mit einer großen Freihandel­szone. Das ist nicht so schwer. Bereits jetzt handeln 52 Länder zollfrei mit Europa. Man muss Afrika als Partner sehen und nicht mit einem karitative­n Ansatz behandeln. Die Afrikaner können das selbst regeln.

Sie haben in der jüngsten Rede zur Lage der EU einbekannt, Sie lieben Europa. Verzweifel­n Sie manchmal an dieser Liebe?

Nein, nein, nein. Wer liebt, sieht über vieles hinweg, aber das Gefühl, die tiefe Empfindung, bleibt.

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