Der letzte Romantiker
Der Charmeur mit den melancholischen Augen war der letzte Romantiker des Chansons. Charles Aznavour starb mit 94 Jahren.
Seine Stimmbänder waren vermutlich aus 800erSchleifpapier, mit feiner Körnung. Charles Aznavour schmeichelte sich in die Gehörgänge, doch die Stimme wirkte immer leicht belegt, als läge sich ein Schatten über die Figuren, die seine Chansons bevölkern. Sein Gesang wurde in alten Zeiten, als Schönklang Maß aller Dinge war, auch einmal als hässlich bezeichnet. Solche Widersprüche setzten sich in seinen Liedern fort: Der Mann mit den melancholischen Augen war ein Charmeur, ein französischer Feingeist und Frauenversteher wie aus dem Buche und doch erzählte er meist vom Scheitern der Beziehungen, vom Ende der Gefühle. Er wurde zum Großmeister einer bittersüßen Romantik.
Schon seine Herkunft steckt voll romantischer Klischees. Geboren 1924 im Pariser Quartier Latin, jenem Viertel der Bohème, deren Leben Aznavour Jahrzehnte später in einem brillanten Chanson besang. Doch seine Jugend war nicht so romantisch. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, seine Eltern waren Vertriebene aus Armenien, Flüchtlinge, die sich vor dem Völkermord im Osmanischen Reich in Sicherheit gebracht hatten. Aznavours klingender Geburtsname Schahnur Waghinak Asnawurjan zeugt von der dramatischen Familiengeschichte. Die Stimme hatte er offenbar vom Vater geerbt und früh ermunterten ihn seine Eltern, seiner Neigung nachzugeben. 1946 wurde Édith Piaf auf den jungen Sänger aufmerksam, den sie mit auf eine Tournee nahm, die bis in die USA führte. Aznavour bestritt bald ständig das Vorprogramm der Piaf und avancierte selbst zum Star.
Im Lauf seiner Karriere schrieb er etwa 1300 Chansons, die er in mehreren Sprachen aufnahm. Sein Lieblingsthema war die Liebe. Er war kein knorriger Intellektueller wie Georges Brassens, kein Feuerkopf wie
„Der Tod? Ich bin bereit. Dummheiten? Ich habe genug begangen. Ich bereue sie nicht.
Charles Aznavour
Jacques Brel, kein poetisches Naturereignis wie Leo Ferré. Im Olymp der Chansonniers besetzte er den Platz des schmachtenden Liebenden, des gefühlvollen Liedermachers mit einem Herzen für die Außenseiter. Eines seiner größten Chansons, „Comme ils disent“, beschäftigt sich mit dem bittersüßen Leben eines Transvesti- ten. „Et moi dans mon coin“erzählt auf abgeklärte Art von der Hölle Eifersucht. Und „Tous les visages de l’amour“ist ein herzerweichendes Bekenntnis eines entwaffneten Bewunderers.
Doch Aznavour konnte auch cool sein. Francois Truffaut engagierte ihn 1960 für „Schießen Sie auf den Pianisten“, eine Hommage an den amerikanischen Kriminalfilm. Aznavour verkörperte den vom Schicksal vor sich hergetriebenen Musiker Charlie mit einer Mischung aus Würde, Melancholie und stoischer Ruhe. Die zweite Karriere als Schauspieler verlief zwar in vielen vor allem eher mittelmäßigen Filmen, doch auf der Habenseite stehen Arbeiten mit Autorenfilmern wie Claude Chabrol, Atom Egoyan und Claude Lelouch. Volker Schlöndorff sicherte sich Aznavours ausdrucksstarkes Gesicht für „Die Blechtrommel“.
Sein drittes offizielles Leben war Armenien gewidmet. Neben dem humanitären Einsatz für die Heimat der Eltern wurde sogar Aznavour zum Diplomaten: Als Armeniens Botschafter in Frankreich und der Schweiz (wo er seinen Wohnsitz hatte) half er mit, das kleine Land an der europäisch-asiatischen Grenze im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu halten. Politisch war Aznavour ohnehin: Der Freund von Jacques Chirac trat öffentlich gegen den Front National auf.
Mit 94 Jahren verstarb Charles Aznavour nun in Südfrankreich. Und selbst der unnachgiebige Gevatter Tod hat wohl ein paar Tränen verdrückt, als er ausgerechnet diesen Grandseigneur mit sanftem Herzen zu holen hatte.