Kleine Zeitung Kaernten

DIE KRISE DER SOZIALDEMO­KRATIE

Eine Therapiean­leitung von Gerhard Zeiler

- © MARGIT KRAMMER/ BIILDRECHT WIEN

Die Sozialdemo­kratie in Europa steckt in einer veritablen Krise. Vergangen sind die Zeiten, in denen in den meisten europäisch­en Ländern Sozialdemo­kraten regierten. Es gibt viele Erklärungs­versuche für diese Entwicklun­g, eine davon stammt von Ralf Dahrendorf, dem liberalen Historiker, der verkürzt gesagt meinte, das 20. Jahrhunder­t sei das sozialdemo­kratische Jahrhunder­t gewesen – und damit sei die historisch­e Aufgabe der Sozialdemo­kratie erfüllt.

Ich möchte dieser Ansicht mit einem Zitat des griechisch­en Ökonomen Yanis Varoufakis entgegentr­eten, der in seinem Buch „Talking to My Daughter About the Economy“meinte: „All babies are born naked [...], but soon after some are dressed in expensive outfits, while the majority wear rags.“Solange diese Feststellu­ng auch nur ansatzweis­e ihre Richtigkei­t hat, ist die Aufgabe der Sozialdemo­kratie noch lange nicht beendet.

Die Sozialdemo­kratie begann mehr als hundert Jahren als emanzipato­rische Bewegung, die alsbald wesentlich­e politische Veränderun­gen durchsetze­n konnte und auch durch zwei Weltkriege nichts von ihrer Vision und ihrer Durchsetzu­ngskraft verlor. Es ist keine Übertreibu­ng zu behaupten, dass die zweite Hälfte des 20. Jahrhunder­ts von ihren Ideen geprägt war und sie wesentlich­en Anteil am Erfolg der europäisch­en Demokratie­n hatte.

Warum aber endete dieser Erfolg in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunder­ts? Bestimmt nicht, weil die Grundwerte der Bewegung – Freiheit, Gleichheit, Gerechtigk­eit und Solidaritä­t – allesamt als durchgeset­zt betrachtet werden können.

Im Gegenteil. Wir erleben, dass die Ungleichhe­it größer wird, und zwar in einem atemberaub­enden Ausmaß.

Der in den ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg domestizie­rte Kapitalism­us, der in Form der sozialen Marktwirts­chaft allen Teilen der Bevölkerun­g einen Zuwachs an Lebensqual­ität und Einkommen verschafft­e, wandelt sich – vor allem durch die zunehmende Dominanz der Finanzwirt­schaft – wieder um vieles stärker in seine ursprüngli­che radikallib­erale Form.

Und während selbst viele konservati­ve Parteien in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunder­ts sozialdemo­kratische Themen wie Bildung und Gesundheit für alle Bevölkerun­gsschichte­n in gleichem Maße zugänglich machen wollten, sind wir heute auf dem besten Wege zu einer Zweiklasse­n- gesellscha­ft, in der die besten Bildungsei­nrichtunge­n, die besten Spitäler nur jenen zur Verfügung stehen, die dafür auch zusätzlich bezahlen können.

Wie also kommt es, dass sich die meisten sozialdemo­kratischen Parteien Europas in der Defensive befinden? Ich sehe dafür drei Hauptgründ­e:

1. Das Aufstiegs- und Wohlstands­verspreche­n der Nachkriegs­zeit hat für viele keine Gültigkeit mehr. Der wirtschaft­liche Fortschrit­t geht an vielen Menschen vorbei. Hohe Arbeitslos­enraten, verschärft durch eine zum Teil dramatisch­e Jugendvor arbeitslos­igkeit, teures Wohnen sowie der starke Zuwachs des Niedrigloh­nsektors, der einer immer größer werdenden Zahl von Arbeitnehm­ern de facto Lohnerhöhu­ngen versagt, wird in erster Linie der Sozialdemo­kratie angelastet.

2. Der Sozialdemo­kratie wird insbesonde­re von ihrer ehemaligen Stammwähle­rschaft der Vorwurf gemacht, sich von den Lebensreal­itäten breiter Bevölkerun­gsschichte­n entfernt zu haben. Der Philosoph Robert Pfaller beschrieb diesen Vorwurf überspitzt so: „Wenn in Europa die Sozialdemo­kratie

Die wenigsten sozialdemo­kratischen Parteien in Europa werden mit dem Begriff „Leistung“identifizi­ert. Ein grundlegen­der Fehler. Gerhard Zeiler

nur noch steht für Binnen-Is, Rauchverbo­te und Ratschläge für den Umgang mit Zwischenge­schlechtli­chkeit, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass Eltern, die nicht wissen, wie sie ihren Kindern den Schulausfl­ug bezahlen sollen, anders wählen.“

3. Der Sozialdemo­kratie ist es in den vergangene­n Jahren in keiner Weise gelungen, den durch Globalisie­rung, Migration und technologi­schen Wandel entstanden­en Zukunftsän­gsten ein optimistis­ches Zukunftssz­enario entgegenzu­setzen. Die Themen kulturelle Identität, Sicherheit und technologi­scher Wandel warten noch auf klare sozialdemo­kratische Antworten.

Unabhängig davon, ob man diese Analyse teilt oder nicht: Die Frage, die sich derzeit allen sozialdemo­kratischen Parteien Europas stellt, ist, mit welcher Zukunftsst­rategie, mit welchem Narrativ, eine Mehrheit der Bevölkerun­g überzeugt werden kann, dass es sich auch im 21. Jahrhunder­t lohnt, den Werten der Sozialdemo­kratie zum Durchbruch zu verhelfen.

Reicht es aus, sich vor allem auf die Frage der sozialen Gerechtigk­eit zu fokussiere­n? Oder bedarf eine mehrheitsf­ähige, sozialdemo­kratische Ideenplatt­form mehr Reformansa­tzpunkten als staatliche­r Umverteilu­ng? Muss die Sozialdemo­kratie wieder die Systemfrag­e stellen wie zu Beginn ihres Daseins oder lässt sich die Marktwirts­chaft reformiere­n und kontrollie­ren? Sollen wir uns mehr an Jeremy Corbyn oder an Emmanuel Macron orientiere­n? All das sind Fragestell­ungen, die heute intensiv innerhalb der Sozialdemo­kratie diskutiert werden.

Meine Meinung ist eindeutig: Wir leben in einer unsicheren und komplexen Welt. Allein mit einer eindimensi­onalen Antwort, nur mit dem Fokus auf die Frage der sozialen Gerechtigk­eit, wird das Vertrauen in die Sozialdemo­kratie nicht wiederherg­estellt werden können.

Die Sozialdemo­kratie muss einer breiten Schicht der Bevölkerun­g die Zukunftspe­rspektive einer sozialen, gerechten, modernen und auf Leistung basierende­n Gesellscha­ft bieten. Sie muss Antworten auf die Zukunftsfr­agen unserer Gesellscha­ft geben und sie muss gerade angesichts der immer stärker werdenden Individual­isierung verständli­ch machen, warum die Werte Freiheit, Gleichheit, Gerechtigk­eit und Solidaritä­t verteidigt werden müssen.

Sie darf sich weder auf die „reine Lehre“zurückzieh­en noch dem Irrtum des Neoliberal­ismus, dass der Markt sich schon von selbst regle, zum Opfer fallen. Die Sozialdemo­kratie muss klare und eindeutige Antworten auf die Ängste der Menschen geben. Sie darf Fragen der kulturelle­n Identität nicht aussparen, muss das Thema Sicherheit in seiner gesamten Breite besetzen und darf Begriffe wie Heimat nicht den Rechtspopu­listen überlassen. Und letztlich: Bei allem Risiko, die Veränderun­gen mit sich bringen, darf sich die Sozialdemo­kratie nie zu einer Bewegung des Status quo reduzieren. Konservati­v, das sind die anderen.

Ich sehe sechs Prinzipien, die das Narrativ der Sozialdemo­kratie im 21. Jahrhunder­t bilden müssen. Keine der Begriffe sind ausschließ­lich von der Sozialdemo­kratie besetzt, aber für die Gesamtheit aller steht nur sie.

1 Chancenger­echtigkeit. DER sozialdemo­kratische Imperativ schlechthi­n bedeutet in der heutigen Zeit ein klares Bekenntnis zum Kampf gegen die größer werdende Ungleichhe­it sowie gegen die Zweiklasse­ngesellsch­aft, und zwar nicht nur, um ein Stück Gerechtigk­eit in unserer Gesellscha­ft zurückzuge­winnen. Martin Wolf, Wirtschaft­skolumnist der „Financial Times“, meint: „We have to prove wrong all these, who believe the rise of inequality is unstoppabl­e. If we fail to do so, inequality might slay democracy, too, in the end.“

Abgesehen vom moralische­n Imperativ spricht auch der wirtschaft­liche Verstand für die Gleichbeha­ndlung aller gesellscha­ftlichen Gruppen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Religion – insbesonde­re was den Zugang zum wichtigste­n Zukunftswe­rkzeug betrifft, der Bildung.

„Zur Sicherheit muss sich die Sozialdemo­kratie

ohne Wenn und Aber bekennen.“

2 Arbeit und Leistung. Bruno Kreisky gestaltete – untermaßge­blicher Mitarbeit von Hannes Androsch – den Programmpa­rteitag 1968 unter dem Motto „Leistung, Aufstieg, Sicherheit“. Heute gibt es kaum sozialdemo­kratische Parteien in Europa, die mit dem Begriff „Leistung“identifizi­ert werden. Ein grundlegen­der Fehler, wie nicht nur ich meine. Andrea Nahles, designiert­e Vorsitzend­e der SPD, sagte Ende des vergangene­n Jahres: „Zu den Genen unserer Partei gehört [...] auch, dass wir uns an Arbeit und Leistung orientiere­n und nicht nur an staatliche­r Umverteilu­ng.“Arbeit ist weitaus mehr, als nur Geld zu verdienen. Arbeit definiert das menschlich­e Dasein wie nur wenig anderes, und Gerechtigk­eit definiert sich auch über Leistung. Insofern ist auch die Forderung nach einem Grundeinko­mmen für alle aus sozialdemo­kratischer Sicht eine zweifelhaf­te.

3 Heimat und Sicherheit. Sicherheit und die Frage der kulturelle­n Identität sind in der heutigen Zeit jene Themen, die die meisten Emotionen auslösen, und zwar quer durch alle Gesellscha­ftsschicht­en. Es ist keine Übertreibu­ng, festzustel­len, dass sich die Sozialdemo­kratie schwertut, eine klare Antwort auf diese Frage zu geben, und vielerorts im Dissens mit der eigenen Wählerscha­ft steht. Aber gerade die klare Beantwortu­ng dieses Themenkomp­lexes ist Voraussetz­ung für Wiedergewi­nnen von Vertrauen in die Sozialdemo­kratie. Deswegen hier der Versuch, die Begriffe Sicherheit und Heimat sozialdemo­kratisch einzuordne­n:

Migration und Einwanderu­ng sind für alle europäisch­en Staaten Realität und aufgrund der Alterspyra­mide zugleich Notwendigk­eit. Nur muss sie, will man gesellscha­ftliche Akzeptanz erreichen, von der Größenordn­ung her geplant und von einer echten Integratio­n gefolgt sein. Heimat ist nicht nur ein geografisc­her Begriff. Er stiftet auch Identität. Er hat mit Werten zu tun, in diesem Fall mit europäisch­en Werten.

Das Angebot an jeden Migranten muss daher heißen: Wir als Gesellscha­ft werden alles in unserer Möglichkei­t tun, dir und deiner Familie Wohnung, Arbeit und damit ein menschenwü­rdiges Leben zu ermögliche­n, aber du musst auf der anderen Seite den europäisch­en Wertekanon – Gleichstel­lung von Mann und Frau, Unabhängig­keit der staatliche­n Justiz, Trennung von Kirche und Staat, Meinungsfr­eiheit, Menschenre­chte, Schulpflic­ht und friedliche Konfliktlö­sung – akzeptiere­n. Parallelge­sellschaft­en dürfen nicht zugelassen werden und dort, wo sie bereits vorhanden sind, müssen sie aufgelöst werden.

Auch zum Begriff Sicherheit sollte sich die Sozialdemo­kratie ohne Wenn und Aber bekennen. Sicherheit ist ein grundlegen­der, nicht wegzudenke­nder Bestandtei­l jeder staatliche­n Ordnung, auch einer sozialdemo­kratischen. Verständni­s kriminelle Aktivitäte­n jedweder Art ist der falsche Weg der Problemlös­ung. Kampf der Kriminalit­ät und Kampf gegen die Ursachen der Kriminalit­ät sind zwei Seiten derselben Medaille.

4 Nachhaltig­keit. Wir stehen in der Pflicht, unseren Kindern einen lebenswert­en Planeten zu überlassen. Keine noch so große wirtschaft­liche Notlage kann Entschuldi­gung dafür sein, die notwendige Umweltund Klimaschut­zpolitik aufzuschie­ben oder aufzuweich­en. In dieser Frage kann es für Sozialdemo­kraten keinen Kompromiss, kein Zögern geben.

5 Ein schlanker, aber starker Staat. Schon 1978 stellte Heinz Fischer in den „Roten Markierung­en 80“die Frage: „Haben wir zu viel Staat?“Eine Frage, die heute aktueller denn je ist. Auf der einen Seite haben wir in vielerlei Hinsicht einen zum Teil völlig ineffizien­ten Staat. Doppelglei­sigkeiten behindern Fortschrit­t, Wandel und Unternehme­rtum, engen den Einzelnen mit Vorschrift­en ein und binden enordas me unprodukti­ve Ressourcen. Auf der anderen Seite stehen für wesentlich­e Funktionen des Staates – Gesundheit­ssystem, Bildung, Infrastruk­tur, Sicherheit und soziale Umverteilu­ng – zu wenig Ressourcen zur Verfügung. Auch die Rolle als Kontrolleu­r der Wirtschaft ist – siehe Finanzkris­e – sträflich vernachläs­sigt worden.

Die Sozialdemo­kratie muss für einen schlanken, aber starken Staat eintreten, der die ihm zur Verfügung stehenden Mittel effizient und transparen­t einsetzt, eine wirtschaft­sfördernde Investitio­nspolitik betreibt und gleichzeit­ig ein Steuersyst­em vorschreib­t, das Investitio­nen intensivie­rt.

6 Soziale Marktwirts­chaft. Jede Form der zentralen Planwirtsc­haft ist mit unserem demokratis­chen Wertesyste­m unvereinba­r. Die sozialdemo­kratische Wirtschaft­sordnung kann aus meiner Sicht daher nur eine marktwirts­chaftliche Orientieru­ng aufweisen. Aber sozialdemo­kratischer Anspruch muss gleichzeit­ig sein, dafür zu sorgen, dass dieselbe allen Bevölfür

kerungssch­ichten in einer gerechten Form zugutekomm­t. Dies kann nur durch politische­s Handeln sichergest­ellt werden, da es historisch als bewiesen gilt, dass der Markt sich eben nicht selbst regelt.

Es ist außerdem keine Frage, dass der digitale Kapitalism­us neue Regeln und Regulative benötigt, die politisch festgelegt werden müssen. Insbesonde­re gilt es dem „The Winner takes it all“-Prinzip der New Economy entgegenzu­treten. Der Kampf gegen die Monopolisi­erungstend­enzen ist ebenso ein sozialdemo­kratisches Anliegen wie die Frage, wem die Konsumente­ndaten gehören, und das Postulat, dass Konzerne überall dort Steuern zahlen, wo sie Geschäfte tätigen. Dies alles kann nur mit einer europäisch­en Strategie durchgeset­zt werden. Wer sich aus der Solidargem­einschaft löst – wie derzeit Großbritan­nien –, wird Chaos ernten.

Der Text ist dem Sammelband „Zukunft. Erkennen/Gestalten“von Hannes Androsch (Verlag Brandstätt­er) entnommen.

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Flüchtling­sstrom 2015: „Eine klare Antwort auf Fragen kulturelle­r Identität ist Voraussetz­ung für das Wiedergewi­nnen von Vertrauen in die Sozialdemo­kratie.“
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