Mays Kartenhaus
Nach dem Brexit-Deal hängt das politische Schicksal von Premierministerin Theresa May am seidenen Faden. Von Neuwahlen bis zu einem zweiten Referendum ist alles möglich.
Lang dauerte es nicht, bis Kabinettsmitglieder und ToryHinterbänkler gegen Theresa Mays Deal mit der EU aufbegehrten. Der Rücktritt ihres Brexit-Ministers ist ein Paukenschlag. Mit Dominic Raab geht die zentrale Figur des Kabinetts, die die gerade in Brüssel erzielte Vereinbarung an die Nation und ans Parlament „verkaufen“sollte. Viel Glaubwürdigkeit bleibt May damit nicht.
Andere Regierungsmitglieder haben ihren Rücktritt eingereicht. Weitere dürften folgen. May klammert sich verzweifelt an ihren Kurs und an ihren Job. Oft genug ist sie abgeschrieben worden. Aber jedes Mal, auch nach den vielen Schlappen in Brüssel, fing sie sich wieder. Selbst aus dem dramatischen Ringen mit ihrem Kabinett diese Woche glaubte sie als Siegerin hervorgegangen zu sein. Die EU gratulierte ihr zum Erfolg – ehe Michel Barnier am Donnerstag seufzte, man habe offensichtlich noch „eine lange Wegstrecke“vor sich.
May hatte gehofft, dass proeuropäische Tories und Labour-Leute sich vor einer No-Deal-Situation ausreichend fürchten würden, um sich hin- ter sie zu stellen. Und selbst Brexit-Hardliner würden ein Einsehen haben aus Angst davor, dass der EU-Austritt durch eine neue Volksabstimmung rückgängig gemacht würde.
Aber das Kalkül ging nicht auf. Trotz Mays forscher ProBrexit-Rhetorik und rasch gezogener roter Linien haben ihr die EU-Hasser bei den Tories nie getraut. Ihren Deal halten sie für Schwindel und können nicht fassen, dass ihr hart erstrittener Referendums-Triumph des Jahres 2016 nun in einer verhängnisvollen „Umarmung“durch die EU enden soll.
Umgekehrt sehen die meisten Pro-Europäer im Parlament unter den gegenwärtigen Umständen keinerlei Vorteil in einem Austritt aus der EU. Das von May miterstellte komplizierte Vertragskonstrukt würde das Vereinigte Königreich jeden Einflusses in Europa berauben, dem Land gewaltige neue Kos- ten aufbürden und zu langjähriger Ungewissheit führen. May ist es so gelungen, beide bitter verfeindeten Seiten im BrexitStreit zu vereinen – im Protest gegen sich selbst.
Damit hat das Brexit-Drama einen Punkt erreicht, an dem das ganze Kartenhaus einzustürzen droht, das Theresa May mühsam errichtet hatte. Die wenigsten ihrer Abgeordneten sprangen ihr im Parlament noch bei. Auf den Oppositionsbänken forderte ein Sprecher nach dem anderen unbekümmert ein neues Referendum. Auch wenn es nicht so leicht sein dürfte, ein solches einzufädeln: Beim Brexit öffnen sich neue Türen. m Grunde tritt die britische Politik jetzt in eine Phase ein, in der alles möglich wird – ein Kollaps der Verhandlungen, Neuwahlen, eine zweite Volksabstimmung. Gestern waren Tory-Hardliner damit beschäftigt, einen Misstrauensantrag in der Fraktion gegen die Parteichefin einzubringen. Bisher hatte man geglaubt, dass sich Theresa May bei einer solchen Abstimmung gegen die Parteirechte würde behaupten können. Jetzt ist nicht einmal das mehr sicher. Alles ist im Fluss.
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