Weihnachten ist schwer für sinnliche Typen
ERZÄHLUNG. Wenn der Mensch etwas will, was er Qualität nennt, aber nur eine Sinnesleere ist, ist es nicht mehr so wie früher, denkt Bernd an seinem Glühweinstand, nimmt einen Schluck Punsch und setzt ein Zeichen.
Bernd rauscht es schon wieder durch alle Synapsen. Es brennt sie ihm nicht durch, nein, sie öffnen sich sogar, da stürzt ihm ein Etwas bis hinunter in den Magen, fährt dann wie ein Schaudern durch den ganzen Körper bis in die Zehen und Fingerspitzen hinein, bald eine Hitze, die ihm die Nagelbetten von den Nägeln hebt und in immer stärkeren Wellen zurück in die Schläfen schlägt: Biologe ist er nicht. Aber was mit ihm zu dieser magischen Zeit jedes Jahr passiert, da ist er sich sicher, das wäre für die Wissenschaft durchaus interessant.
Zwischen 18 und 19 Uhr am Samstag: die beste Zeit. Ein Cointreaupunsch hier, ein roter Glühwein bitte sehr, gerne eine gute Wurst für den Herrn, ein Tee mit Schuss, mit Extraschuss, jawohl! Bernd ist in Topform, Bernd arbeitet nonstop, fünf Wochen, jeden Tag, Bernd hat den besten Job der Welt. Die besinnlichste Zeit des Jahres hat begonnen und besinnliche Zeiten sind genau Bernds Ding. Denn Bernd ist ein durch und durch sinnlicher Typ. Wo das „be“herkommt, das weiß er nicht und das braucht er nicht, das trägt er bereits im Namen, ihm genügt es voll und ganz, wie sich seine Sinne hier überschlagen: Wie es leuchtet und glitzert, hier eine Lichterkette, da ein blinkender Stern, rot, weiß, grün, und überall diese kleinen Figuren! Bernd liebt diese kleinen Figuren überall! Die dicken Weihnachtsmänner, die dünnen, die Engel, die Rentiere, die Glocken, diese glitzernden Schneelandschaften an den Geschäftseingängen, nach Zimt und heißem Wein riecht es und sowieso, wie von allen Seiten Musik kommt, diese wunderbaren Weihnachtslieder aus den Lautsprechern, ja, man weiß gar nicht, woher sie kommen, sie gehen Bernd auf jeden Fall direkt ins Ohr. Bumbidumm, singt Bernd. Bernd singt: Nananananananana. Nananananana! Ist der Orangenpunsch mit Alkohol? Dieser wackelnde Pelzkragen in der Weihnachtsluft, diese süßen, kleinen Christbaumkugeln an den Ohren, dann hat er gesagt, er weiß noch genau: Nein. Dann ging sie von dannen, von Sinnen nicht, Bernd hat sie nie vergessen. Vor Arbeitsbeginn steht er im Gebläse des Einkaufszentrums, überall dicke Jacken, dicke Einkaufstaschen, er weiß, dass seit damals jeder Punschschluck, jedes Zittern in der Magengrube, das Eilen gegen Mittag zum Glühweinstand, dass das alles seither unweigerlich in einer Bewegung zueinander passiert.
Fünfzig Wochen sind gut zu überstehen, wenn danach Adventzeit ist. Bernd schenkt sich Glühwein ein. Er wartet auf ein Zeichen. Weil die Zeichen kommen und die Zeichen werden zeigen. Denn so ganz weiß er dieses Jahr nicht, wohin mit seinem präparierten Sinneskörper: Es ist alles nicht mehr wie früher. Zuerst wurde das Weihnachtsmann-Schlitten-Motiv auf den Glühweintassen durch ein schlichtes Schneelandschaftsfoto ausgetauscht, das war noch zu ertragen, aber seit letztem Jahr merkt er, will der Mensch auf einmal wieder etwas, das er Qualität nennt, aber nur eine
Sinnesleere ist, keine Rentierund Engelshaarreifen mehr auf den Straßen, die blinkenden Weihnachtspullover werden weniger, die sprechenden Weihnachtsmännerfiguren sowieso, kein Lametta mehr auf dem Christbaum am Hauptplatz, nur Holzsterne und Äpfel! Äpfel! Die anderen Glühwein- stände karg geschmückt, nur ein Teller farbloser Butterkekse, vielleicht noch auf eine grün gemusterte Serviette gestellt und ein armseliges Strohengelchen daneben, ja schaut nur herüber, neidisch seid ihr auf Bernds Blinkblink-Lichterketten und das Nananananana, das aus seinem Stand kommt! Und auf seine Weihnachtshaube, die den Bommel auf Knopfdruck hin- und herschwenkt und hin- und herleuchtet! Auch immer nur diese deutschsprachigen Chorgesänge, alle gleich, ohne Pepp, und schlimm ist vor allem, dass die Süße des Glühweinkonzentrats nicht mehr durch alle Winde weht, die anderen machen den Glühwein jetzt selbst mit Saft und Wein und Rum oder was weiß Bernd schon, was da hineingehört. Und: Kein wackelnder Pelzkragen weit und breit, aber das ist ja auch klar in dieser Sinneswüste. Blind ist der Mensch geworden für das Schöne und die Sinne.
Eine Wurst hier und da, ein Glühwein, zumindest ein freundlicher Kommentar zu seiner Haube: Wackeln kann sie und blinken kann sie auch. Bernd schaut zu seinem Freund nach hinten, den er in die Ecke zwischen dem Wurstkocher und dem Glühweintopf gesetzt hat: ein rot glitzernder Weihnachtsbaum, der singen kann. Und genau in dem Moment, ja gerade, als er ihn anschaut, da blinkt ein kleiner Glitzer auf einmal weiß hervor und Bernd kann die Zeichen lesen, er ist ja ein sehr sinnlicher Typ, und weil es auch Zeichen braucht, damit Geschichten zu Ende gehen und weil er dieser Weihnachtsgeschichte schon eine Weile zugeschaut hat, wie sie geschmacksund klanglos einem Ende zugeht, deshalb liest er jetzt die Zeichen. Er nimmt noch einen Schluck Cointreaupunsch, dann geht er raus, wischt die Menschen um die Stehtische mit einer Handbewegung weg und klappt sie zusammen, stellt jede Figur einzeln (Weihnachtsmänner, Engel, Wichtel, Sternschnuppen, Schneemänner, Schlitten, Tannenbäume, Schaukelpferde, Bären, Hasen und Eulen mit Weihnachtshauben und so weiter) auf seine Seite der Theke, macht die Balken seines Glühweinstandes zu, ob die Leute was sagen? Das hört er nicht. Er verriegelt die Tür. Er schaltet das Radio ein, auf seinem Handy die richtige Playlist, drückt die Mützen und Ohren der Figuren, sodass sie alle singen oder Ho Ho Ho machen. Er leert die vier großen Glühweinkocher in seinen kleinen Stand und es rinnt natürlich nicht durch die Holzritzen nach draußen, denn Bernd hat alles mit einer schimmernden Schneeflocken-Einpackfolie verkleidet. Weit können die wackelnden Pelzkragen und bommelnden Christbaumohrringe nicht sein, jetzt können sie nicht mehr weit sein, denn Bernd taucht und trinkt und taucht zu ihnen und es rauscht ihm durch die Sinne, er taucht noch einmal tiefer, da schmeckt es nach Cointreau, ein paar Tempi weiter dann nach Schilcherglühwein und ein bisschen nach Wurstwasser, die Lichterketten blinken, die Weihnachtsmänner singen, das Glühweinkonzentrat schmeckt nach allen Früchten der Welt und öffnet die Synapsen oder brennt sie durch oder was auch immer sie machen können, Bernd geht es gut.
Kalt ist ihm nicht.