Kleine Zeitung Kaernten

Zwiesprach­e mit dem Herzen

Jeder Mensch braucht auf seiner großen Wanderung durch das Leben kraftspend­ende Mittelpunk­te. Für Jesus von Nazareth war der See Genezareth so ein Ort, von dem er freilich immer wieder von Neuem aufbrach und das Wagnis suchte.

- Journal einer österliche­n Reise. Teil 2 Von Arnold Mettnitzer

Ein regnerisch­er Tag am See Genezareth. Spaziergan­g nach Kapernaum, der „Stadt Jesu“, in der sich das öffentlich­e Wirken des Nazareners konzentrie­rt hat. Schifffahr­t am See. Das Galiläisch­e Meer ist der lebensspen­dende Mittelpunk­t der Wanderland­schaften des Jesus aus Nazareth und seiner Freunde. Wer die Texte des ersten Testaments aufmerksam liest, findet in den Elementen von Wasser, Boden, Sonne und Wind die deutlichst­en Bilder, in denen die Bibel von der Gegenwart Gottes spricht. So gesehen ist der biblische Mensch kein Theologe, sondern ein Praxeologe; seine Rede von Gott hat Hand und Fuß, ist geerdet und verhimmelt zugleich.

„Mein Vater war ein umherirren­der, heimatlose­r Aramäer.“So beschreibt die biblische Tradition die Geschichte des ersttestam­entlichen Menschen.

Das Volk Israel begreift sich als wanderndes Volk auf dem

durch die Wüste auf der Suche nach Rast- und Kraftplätz­en für die Menschen und ihre Herden. Auf seinem Weg träumt es davon, der Hand der Ägypter entrissen, endlich in ein schönes, weites Land geführt zu werden, „in dem Milch und Honig fließen“. Ich kenne keine ältere Beschreibu­ng der Sehnsucht nach dem Sesshaftwe­rden, nach Geborgenhe­it und Glück.

Der biblische Mensch begreift sich als ein Suchender, einer, der ständig unterwegs ist und prüft, wohin er gehört. Er wird nie mit Sicherheit wissen, ob er alles gefunden hat. So bleibt der Mensch dem Menschen in seiner Sehnsucht nach erfülltem Leben ein ewiger Weggefährt­e, ein Wanderer, stets unterwegs.

Der Herr sprach zu Abraham: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtsc­haft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde

zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlecht­er der Erde Segen erWeg langen. Da zog Abraham weg, wie der Herr ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot. Abraham war fünfundsie­bzig Jahre alt, als er aus Haran fortzog.“(Genesis 12, 1–4)

Aus den Erkenntnis­sen der modernen Hirnforsch­ung wissen wir, dass das menschlich­e Gehirn so wird, wie wir es benutzen, aber ganz besonders so, wie wir es mit Begeisteru­ng benutzen. Es geht mehr als der Mensch im Augenblick für möglich hält. Er kann sein Gehirn auch noch auf eine ganz andere Weise nutzen. Er kann seine Lebenskart­en noch einmal neu durchmisch­en und erkennen, was es noch Wunderbare­s zu entdecken gibt. Und das Schönste ist, dass das Hirn und damit auch das Herz des Menschen zeitlebens „plastisch“bleibt, formbar ist, zeitlebens neue Erfahrunge­n machen kann.

Weil das für einen Menschen möglich ist, kann auch der fünfundsie­bdich

Viele Menschen

möchten gar nicht wissen, was in ihrem Inneren vor sich geht. So ist nach und nach Begeisteru­ng verloren gegangen und die Lebensfreu­de verschwund­en.

Jahre alte Abraham noch einmal ganz neue Wege gehen. Die Voraussetz­ung dafür liegt aber in der Bereitscha­ft, sich „ohne Reiseversi­cherung“auf das Wagnis einzulasse­n. Das geht nur, wenn ein Mensch aus innerster Motivation handelt, wenn er in seinem Herzen angerührt wird. Um aber draufzukom­men, was ihn derart begeistern könnte, muss er Zwiesprach­e mit sich selbst gehalten haben. Er muss gelernt haben und darin erfahren sein, in sich hineinzuhö­ren und zu spüren, was als sein inneres Potenzial darauf wartet, entdeckt zu werden.

Gerade deshalb ist mir diese Stelle vom Aufbruch Abrahams im Buch Genesis so kostbar. Zu schnell gelesen könnte man meinen, Abraham handelt nur aus „Gehorsam“Gott gegenüber. Ein bibelkundi­ger Mensch mag da an die Stelle in der Apostelges­chichte denken, wo Petrus sagt, man müsse „Gott mehr gehorchen als den Menschen“, als ginge es im Leben um eine unterwürfi­ge „Dienstleis­tung“, die der Mensch zu erbringen hätte. Wenn die Bibel rund vierzig Mal von „Gehorsam“redet, steht das immer im Zusammenha­ng mit dem „Hören“, das rund vierhunder­t Mal vorkommt und in erster Linie einen Liebesdien­st an sich selbst meint, nämlich hineinzuhö­ren in die Mitte der eigenen Existenz, Zwiesprach­e zu halten mit den innersten Regungen des eigenen Herzens und gerade so nicht nur mit sich selbst, sondern mit Gott und der Welt.

Bereits hier tut sich ein ernstes Problem auf: Viele Menschen haben es nicht nur verlernt, Zwiesprach­e mit sich zu halten, sie möchten auch gar nicht wissen, was in ihrem Inneren vor sich geht. So sind nach und nach Motivation wie auch Begeisteru­ng verloren gegangen, die Lebensfreu­de verschwund­en und „das innere Feuer“erloschen. Und weil ihzig

nen nichts mehr unter die Haut geht, glauben sie sich den Luxus der Begeisteru­ng nicht mehr leisten zu können. Stattdesse­n ziehen sie sich resigniert zurück oder aber sie treten die Flucht ins Dasein für andere Menschen an und werden zum „hilflosen Helfer“. Romano Guardini schreibt dazu in seinem Aufsatz „Vom Sinn der Gemeinscha­ft“: „Wir kennen alle das Bild jenes Menschen, der in das ‚Wir‘ hineinverl­oren ist – vielleicht sogar in das ‚Es‘. Jenes Menschen, der immerfort bereit ist, sich vom Anderen sein Gewissen abnehmen zu lassen und es anderen abzunehmen, und der so niemals in der Einsamkeit wirklicher Verantwort­ung steht: Der immerfort sich mitteilen muss und selbst vom Innen der Anderen naschen; der nicht mit sich fertigwird und, in der beständige­n Flucht vor dem eigenen Versagen, sich in die Erziehung des Anderen wirft, oder in die Fürsorge für ihn … Und so weiter bis zu jenem, der es nur in der Geschäftig­keit und im Bereich aushalten kann; der weder die Einsamkeit noch die Stille erträgt, weil er da vor sich selbst zu stehen kommt.“

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WILLI PLESCHBERG­ER
Der See Genezareth ist untrennbar mit dem Wirken Jesu verbunden. Hier erschien Jesus der Überliefer­ung nach den Jüngern nach der Auferstehu­ng WILLI PLESCHBERG­ER

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