Der Hunger nach Erfahrung
Wer im Leben den Aufbruch, ja Ausbruch aus dem Einerlei des Alltags wagt, der gerät früher oder später in Erlebnisse, die ihn wandeln und verwandeln und ihm mit dem Herzen Dinge fühlen lassen, die der Verstand längst verloren wähnte.
Auffahrt zum Berg Tabor, wo wir an die Erzählung von der Verklärung erinnert werden, eine Vision, die vor den Augen der Jünger Jesus gemeinsam mit Moses und Elija erscheinen lässt. Über solche ekstatischen Erlebnisse erzählen wir ja auch heute noch, wenn wir mit unglaublichen Widerfahrnissen konfrontiert werden, die unser Verstehen übersteigen.
Nie ist der Mensch so da wie dann, wenn er weg ist und ihm die Worte fehlen, um das, was er erlebt, mit anderen zu teilen. Das Staunen ist die verlässlichste Art, sich nicht mit Gott zu verwechseln. Und sehr „heutig“mutet auch die Reaktion des Petrus auf das Erlebte an: „Lass uns hier drei Hütten bauen!“– Lass uns das, was uns guttut, festhalten, einsperren, bewahren.
Man könnte sich so die Überraschung sparen und auch auf Nummer sicher gehen. Doch das Leben zeigt uns täglich, dass sich Lebendigkeit nicht festhalten lässt, weil es sich dort ereignet, wo wir mit unseren eigenen Plänen beschäftigt sind, die im
wieder jählings über den Haufen geworfen werden.
Immer wieder begeben sich Menschen auf die Suche nach Alternativen für ihr bisher gelebtes Leben. Und zu allen Zeiten bündelt sich die Sehnsucht nach Neuem in Wallfahrten. Im Grunde ist es wohl der Hunger nach „Erfahrung“, der Wunsch, die eigene Mitte nicht zu verlieren und sich immer wieder neu zu verorten. So liegt auch heute noch oder wiederum Pilgern im Trend. Immer mehr Menschen machen sich auf den Weg, um
gewohnte Lebensweisen zu überdenken, für etwas zu bitten oder zu danken, den Wunsch nach anderen Perspektiven, nach Ruhe und Frieden zu stillen. Ob nach Jerusalem, Santiago de Compostela, Rom oder Mariazell, Wallfahrt liegt im Trend.
Dabei kenne ich erstaunlich viele Menschen, die sich von ihrer religiösen Gemeinschaft seit Langem verabschiedet haben, es sich aber nicht nehmen lassen, bei Wallfahrten mitzumachen, um, wie mir ein Teilnehmer unserer Reise auf dem Ölberg mit Blick auf Jerusalem sagte, auf diesem Weg vielleicht Verlorenes wiederzufinden.
Seit jeher gibt es Orte der Kraft, an deren Besuch die Hoffnung auf Gesundheit für Leib und Seele geknüpft ist. Schon in der Antike ist der Kult des Heilgottes Asklepios an Heiligtümer in Epidauros, Athen, Knidos, Kos und Pergamon gebunden. Alle Religionen kennen solche Orte. Es geht stets um Aufbruch, manchmal um „Ausbruch“, um Läuterung auf der Suche nach dem, wovon man lemer
ben kann. Was sucht ein Pilger, wenn er sich auf den Weg macht? Es werden wohl immer ganz persönliche Gründe sein. Aber immer gerät der Mensch, der aufbricht, durch seinen Pilgerweg in Erlebnisse, die ihn verwandeln und die er mit anderen teilen kann. Wenn er Glück hat, lernt er neu zu hören, zu sehen, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen; seine Sinne bekommen ihre Kraft zurück, er spürt mit dem Herzen und achtet auf Dinge, die im Trubel des Alltags verloren gegangen sind.
Natürlich braucht es nicht die große Reise zu sein. Wer aber nie vom Fleck kommt, droht im Alltag zu ersticken – Wallfahrt bedeutet daher zunächst einmal, in Bewegung zu bleiben, nicht aufzuhören, auf der Suche zu sein.
Aber muss er dazu auf Reisen gehen? Kann er die lebensnotwendenden Erfahrungen nicht „einfach“auch dort machen, wo er im Moment in dieser Welt steht? Diese Frage führt eine der vielen Paradoxien des Lebens vor Augen: Zum Zweck nachhaltiger Selbsterfahrung lohnt es sich, den Platz, an dem man lebt, immer wieder zu verlassen, um mit neuen Augen wertschätzend dorthin zurückzukehren oder aber in neuer Klarheit ganz woandershin aufzubre
In jedem Fall scheint zu gelten: Offensichtlich muss man weggegangen sein, um wieder einen Blick für das zu bekommen, was man hat.
Natürlich braucht es nicht die große Reise zu sein. Für den, der immer unterwegs ist, ist vielleicht gerade sein Zuhause der privilegierte Ort, um inneren Frieden zu finden. Wer aber nie vom Fleck kommt, droht im Einerlei des Alltags zu ersticken. Wer sich auf die Reise begibt, wer „wandelt“, kommt „gewandelt“zurück. Allein schon durch seine körperliche Bewegung hat er das wirksamste Antidepressivum der Natur aktiviert, weil er dafür sorgt, dass sein Hirn arbeitet, nicht zum Stillstand kommt und neugierig bleibt. „Wallfahrt“bedeutet in diesem Sinn zunächst einfach, in Bewegung zu bleiben, Hunger nach Erfahrungen zu haben, nicht aufzuhören, auf der Suche zu sein.
André Gide rät dazu, sich an die zu halten, die die Wahrheit suchen, sich aber vor denen zu hüten, die sie gefunden haben. Kein Wallfahrer, der ans Ziel kommt, kann einem anderen das Gehen seines Weges ersparen. Aber jeder Wallfahrer, wiewohl er weiß, dass ihm niemand seinen Weg abnimmt, wird dankbar dafür sein, einen Weggefährten zu finden, der mit ihm geht. Davon singt der Psalmist in einem der bekanntesten Lieder des Alten Testamentes, im Psalm 23:
„Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlanchen.
gen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang, im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.“
Die moderne Version dieser biblischen Ermutigung hat vor ein paar Jahren ein Seminarteilnehmer aus der Südsteiermark am Ausgang einer HeurigenBuschenschank gefunden: „Geh nur deinen Weg! Frag nicht, was die andern sagen. Wenn dir Gott das Urteil spricht, wird er nicht die Leute fragen.“
Eine solche Zuversicht wäre das, was die innerste Bestimmung von Religion wäre, nämlich einem Menschen zu helfen, sein ursprünglichstes „Vermögen“, seinen innersten Kern freizulegen und wieder zugänglich zu machen.