| Warum uns die Flammen in der Kathedrale von Notre-Dame so nahegehen.
Das Feuer in Notre-Dame löste weltweit Emotionen aus. Warum der Brand einer Kirche Gefühle freilegt, die im Normalbetrieb der Welt im Gezänk unterzugehen drohen.
Es war ein beklemmender Fernsehabend. Tatenlos und ohnmächtig saß man vor dem Schirm und beobachtete, wie Flammen ein über 800 Jahre altes Gebäude langsam zu verzehren drohten. Die menschliche Machtfülle beschränkte sich in diesen quälenden Abendstunden auf die Fernbedienung in der Hand.
Warum schmerzt die Vernichtung eines fernen Kirchbaus auch Menschen, die mit der Religion lange schon gebrochen haben, die mit Frankreich wenig verbindet und die sich für die Raffinesse der Gotik nicht näher interessieren?
Der Flammenfraß macht vor aller Augen ein paar vergessene Binsenweisheiten sichtbar.
„Das können wir das nächste Mal machen“, sagten sich Freunde, als sie sich vor wenigen Tagen in Paris für einen Kaffeehausbesuch entschieden, statt sich in die Warteschlange vor der Kathedrale von NotreDame einzureihen. Sie werden lange warten müssen, und was sie dann zu sehen bekommen werden, wird ein anderes Bauwerk sein.
Das angenehme Gefühl, über gesicherte kulturelle Reichtü
mer zu verfügen, verflüchtigt sich vor den Bildern einstürzender Altbauten. Der langsame Fraß, dem irgendwann alles zum Opfer fallen wird, beschleunigt sich in solchen Momenten wie im Zeitraffer. Zeit wird spürbar, wenn 1300 Eichen, die zu einem Dachfirst aufzuschichten es einst 200 Jahre dauerte, in drei Stunden prasselnd zusammenkrachen. Zeugnisse einer großen Epoche, mit der wir uns gerne stolz in Verbindung setzen, verschwinden, ohne dass Rettung möglich wäre.
Tief drinnen regt sich in solchen Momenten so etwas wie kollektive Erinnerung. Auf einmal empfinden wir etwas als Teil unserer Existenz, das wir schon abgetan glaubten, als endgültig vergangen, abgeschoben in Tourismusprospekte. Die Bilder von knienden, betenden Menschen vor der brennenden Kathedrale machten die Kluft deutlich zwischen unserem Alltagsleben und den Epochen, deren steinernes Zeugnis vor unseren Augen in Flammen aufging.
Wie ein Zahn, der nur ins Bewusstsein tritt, wenn er sich entzündet, weckt der Brand die Erinnerung an vergessene, abgelebte oder abgelegte Teile unserer gemeinsamen Geschichte. „Historische Wehmut“nannte auf Twitter eine Dame das Gefühl, das sie und so viele befiel, als sie die Flammen aus dem N Dach steigen sahen. atürlich gab es auch die anderen, Verschwörungstheoretiker, die Feinde aller Art hinter dem Feuer witterten. Sie schlagen die Einladung aus, das Ereignis als Appell zu einem gemeinsamen Kraftakt zu verstehen, wie es viele Großspender schon Stunden nach dem Ausbruch des Feuers taten. Der Brand von Notre-Dame zeigt ja auch, wie leicht und rasch zerstört werden kann, was Generationen errichtet hatten. Warum nicht eine einfache Feuersbrunst als Anregung nehmen, wieder mehr über das Verbindende als über das Trennende nachzudenken. Auch wenn das weniger spektakulär ist.