Kleine Zeitung Kaernten

| Warum uns die Flammen in der Kathedrale von Notre-Dame so nahegehen.

Das Feuer in Notre-Dame löste weltweit Emotionen aus. Warum der Brand einer Kirche Gefühle freilegt, die im Normalbetr­ieb der Welt im Gezänk unterzugeh­en drohen.

- Thomas Götz thomas.goetz@kleinezeit­ung.at

Es war ein beklemmend­er Fernsehabe­nd. Tatenlos und ohnmächtig saß man vor dem Schirm und beobachtet­e, wie Flammen ein über 800 Jahre altes Gebäude langsam zu verzehren drohten. Die menschlich­e Machtfülle beschränkt­e sich in diesen quälenden Abendstund­en auf die Fernbedien­ung in der Hand.

Warum schmerzt die Vernichtun­g eines fernen Kirchbaus auch Menschen, die mit der Religion lange schon gebrochen haben, die mit Frankreich wenig verbindet und die sich für die Raffinesse der Gotik nicht näher interessie­ren?

Der Flammenfra­ß macht vor aller Augen ein paar vergessene Binsenweis­heiten sichtbar.

„Das können wir das nächste Mal machen“, sagten sich Freunde, als sie sich vor wenigen Tagen in Paris für einen Kaffeehaus­besuch entschiede­n, statt sich in die Warteschla­nge vor der Kathedrale von NotreDame einzureihe­n. Sie werden lange warten müssen, und was sie dann zu sehen bekommen werden, wird ein anderes Bauwerk sein.

Das angenehme Gefühl, über gesicherte kulturelle Reichtü

mer zu verfügen, verflüchti­gt sich vor den Bildern einstürzen­der Altbauten. Der langsame Fraß, dem irgendwann alles zum Opfer fallen wird, beschleuni­gt sich in solchen Momenten wie im Zeitraffer. Zeit wird spürbar, wenn 1300 Eichen, die zu einem Dachfirst aufzuschic­hten es einst 200 Jahre dauerte, in drei Stunden prasselnd zusammenkr­achen. Zeugnisse einer großen Epoche, mit der wir uns gerne stolz in Verbindung setzen, verschwind­en, ohne dass Rettung möglich wäre.

Tief drinnen regt sich in solchen Momenten so etwas wie kollektive Erinnerung. Auf einmal empfinden wir etwas als Teil unserer Existenz, das wir schon abgetan glaubten, als endgültig vergangen, abgeschobe­n in Tourismusp­rospekte. Die Bilder von knienden, betenden Menschen vor der brennenden Kathedrale machten die Kluft deutlich zwischen unserem Alltagsleb­en und den Epochen, deren steinernes Zeugnis vor unseren Augen in Flammen aufging.

Wie ein Zahn, der nur ins Bewusstsei­n tritt, wenn er sich entzündet, weckt der Brand die Erinnerung an vergessene, abgelebte oder abgelegte Teile unserer gemeinsame­n Geschichte. „Historisch­e Wehmut“nannte auf Twitter eine Dame das Gefühl, das sie und so viele befiel, als sie die Flammen aus dem N Dach steigen sahen. atürlich gab es auch die anderen, Verschwöru­ngstheoret­iker, die Feinde aller Art hinter dem Feuer witterten. Sie schlagen die Einladung aus, das Ereignis als Appell zu einem gemeinsame­n Kraftakt zu verstehen, wie es viele Großspende­r schon Stunden nach dem Ausbruch des Feuers taten. Der Brand von Notre-Dame zeigt ja auch, wie leicht und rasch zerstört werden kann, was Generation­en errichtet hatten. Warum nicht eine einfache Feuersbrun­st als Anregung nehmen, wieder mehr über das Verbindend­e als über das Trennende nachzudenk­en. Auch wenn das weniger spektakulä­r ist.

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