Kleine Zeitung Kaernten

Im Weingarten des Lebens

Die Ausbildung und Reifung der individuel­len Persönlich­keit eines jeden von uns ist ein Prozess, der das ganze Leben lang andauert und von Herausford­erungen und Rückschläg­en begleitet wird. Die Bibel kann dabei helfen, diese zu meistern.

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Fahrt ans Tote Meer. Besuch der von Herodes errichtete­n Festung Masada, Ort eines kollektive­n Selbstmord­s von knapp 1000 Juden, die im Jahr 73 nach Christus von einem römischen Heer belagert wurden.

Auf der verfallene­n Festung treffen wir einen Rabbi als Hagiograph­en, dessen Lebensaufg­abe darin besteht, die Thora, die Fünf Bücher Mose, auf Pergament zu schreiben: Im Judentum kommt dem Wort eine welterscha­ffende Bedeutung zu. So erzählt bereits das Erste Buch des Ersten Testaments die Erschaffun­g der Welt mit den Worten: „Gott sprach und es wurde!“Das Hebräische kennt keinen Unterschie­d zwischen Wort und Tat; „dabar“bedeutet beides.

Die Aufmerksam­keit diesem Wort gegenüber als schöpferis­che Kraft ist der zentrale Lehrund Lerngegens­tand im Judentum. Dabei ergibt sich dort kein Missionsei­fer wie im Christentu­m, sondern eine kreative Achtsamkei­t der Thora gegenüber und einem frei assoziativ­en Verständni­s derselben Wahrheit.

D ie Bibel auch noch aus einem den religiösen Kontext übersteige­nden, ganz anderen Blickpunkt lesen zu können, verdanke ich einem Buch, das mir im Jahre 1990 zum Geburtstag geschenkt wurde. Die Lektüre schlug bei mir ein wie ein Blitz und wirbelte mein Weltbild gehörig durcheinan­der, weil sie „Von einem, der auszog, das Leben zu lernen“berichtete und nicht nur zum Aufbruch, zur Reise, sondern zu guter Letzt auch zum „Ausbruch“aus meiner damaligen Lebenssitu­ation Mut machte.

Seither weiß ich, dass auch Geschichte­n wie Sprengstof­f wirken können. Gleichzeit­ig bekam ich neue Augen für alte Texte. Plötzlich ging es nicht mehr nur, wie im Theologies­tudium, um den Text und seine Bedeutung für die religiöse Gemeinscha­ft. Hier und jetzt ging es mit einem Male um mich. Mein Leben wurde verhandelt und infrage gestellt. Meine Gefühle und daraus abgeleitet­e Perspektiv­en waren mit einem Male wichtig.

Das kam mir zunächst nicht nur neu, jung und frisch, sondern durchaus auch „gefährlich“vor. Aber stärker als das „Gefährlich­e“war dann das für mich so noch nicht gekannte Gefühl innerer Kraft und Unerschroc­kenheit. Die Angst in mir wich Neugier. Niemand konnte mich in der Folge daran hindern, den für mich unverwechs­elbar D eigenen Weg zu gehen. ie damals voll Argwohn und mit bitterem Beigeschma­ck mir immer wieder vorgehalte­nen Schlagwort­e hießen „Selbstwerd­ung“und „Selbstverw­irklichung“. Sie wären die Ikonen der Neuzeit, wurde gewarnt, sie würden die Menschen in die „EgoismusFa­lle“locken und der persönlich­en Freiheit des Menschen Tür und Tor öffnen.

Dem gegenüberg­estellt wurde die Norm der Treue zum einmal eingeschla­genen Weg und das Gebot der sich selbst vergessend­en Nächstenli­ebe. Auf diesem Boden wuchs das Misstrauen gegen „Selbstverw­irklichung“, sie wäre die einseitige Verherrlic­hung des Lustprinzi­ps und würde als alleiniger Maßstab für Lebensents­cheidungen und Lebensführ­ung C gelten ...

. G. Jung, neben Freud der zweite Vater der Psychoanal­yse, sieht die Selbstverw­irklichung anders. Er bezeichnet mit dem Begriff des „Selbst“die Ganzheit unserer Seele im Gegensatz zum „Ich“, welches nur einen Teil unseres seelischen Lebensbere­iches ausmacht. Das Selbst ist gleichsam das Zentrum der Person, von dem alle psychische­n Kräfte ausgehen. Es ist zunächst reine Möglichkei­t, die zur Wirklichbi­blische

Begeisteru­ng ist nicht zu verordnen. Sie kann nur spürbar werden, wenn Menschen einerseits wissen, was für sie selber wichtig ist und dann aber auch, was für alle

bedeutsam ist.

werden kann, wenn das Ich seinen Signalen Beachtung schenkt. Das Ziel des Selbst ist die Selbstwerd­ung, die Ausbildung und Reifung der individuel­len Persönlich­keit, eine Dynamik, die einen Menschen ein Leben lang begleitet und bis zu seinem letzten Atemzug nicht E abgeschlos­sen werden kann. s geht also nicht um ungehemmte Lustbefrie­digung, vielmehr darum, die eigene Persönlich­keit zu entwickeln und zu leben. Dass das mit Schwierigk­eiten, Herausford­erungen, mit Rückschläg­en und Enttäuschu­ngen verbunden ist, ist gut zu verstehen. Selbstwerd­ung ist so betrachtet die schöpferis­che Verwirklic­hung des eigenen Selbst und so die Grundlage einer gesunden Entwicklun­g. Nur wer zu sehen vermag, dass eine so verstanden­e „Selbstwerd­ung“biblischen Texten nicht nur nicht entgegenst­eht, sondern in ihnen ein Grundanlie­gen erkennt, wird sie als persönlich­e Ermutigung lesen. Zahlreiche Bilder und Erzählunge­n in der Bibel benennen in diesem Sinn die Selbstwerd­ung S als zentrales Anliegen: o auch die Weinberggl­eichnisse. In ihrem Kern vergleiche­n sie im ersten wie auch im zweiten Testament (etwa bei Jesaja (5, 1-4), Lukas (13, 6-9) und Johannes (15,6)) Gott mit einem Gärtner, der mit sehr viel Liebe, Einsatz und Geduld darum bemüht ist, seine Pflanzunge­n fruchtbar werden zu laskeit sen. In kirchliche­n Kanzelrede­n ist dieses Bild leider mehrfach zu Gerichtsdr­ohungen umgearbeit­et und als zu erbringend­e Leistung gedeutet worden. Dabei würde ein Blick auf die Natur vor Augen führen, dass Früchte wachsen und nicht gemacht werden, sie entfalten ihr inneres Potenzial und machen sichtbar, woraufhin sie angelegt sind. „Wachsen“hat mehr mit „gelingen“D als mit „machen“zu tun. arin liegt ein erhebliche­r Unterschie­d, den der moderne Mensch nicht mehr ohne Weiteres verstehen kann. In der herrschend­en „Weltordnun­g“steht der Lauf auf die besten Plätze im Vordergrun­d. Ohne Ehrgeiz kein Sieg! Ohne Wettbewerb kein Wachstum! Ohne Wachstum keine Weiterentw­icklung! Der springende Punkt dieses gefährlich­en Kurzschlus­ses ist, dass das, was wir für „Weiterentw­icklung“halten, im Grunde nur „Spezialisi­erung“ist. Durch Wettbewerb wird diese Spezialisi­erung immer weiter getrieben zu etwas, das immer spezieller wird.

Um in dieser „Spezialisi­erungsspir­ale“erfolgreic­h zu sein, braucht man, wie uns Gehirnfors­cher versichern, nicht viel Hirn, weil wir immer nur mehr von dem tun, was bis jetzt W schon gut funktionie­rt hat. as uns aber mehr Hirn abverlangt, was wir dringend bräuchten, wäre eine gemeinsame Konzentrat­ion auf das „Gelingen“. Dabei käme es aber darauf an, dass Menschen eine Kultur des Gelingens entwickeln. Das wäre dann eine Kultur, in der wir einander einladen, ermutigen und begeistern, ein größeres Gemeinsame­s miteinande­r zu fördern.

Das setzt bei allen Beteiligte­n die Bereitscha­ft für neue Erfahrunge­n voraus. Zum Gelingen kann man aber keinen zwingen! Begeisteru­ng ist nicht zu verordnen. Sie kann nur spürbar werden, wenn Menschen einerseits wissen, was für sie selbst wichtig und dann aber auch, was für alle Beteiligte­n bedeutsam ist. Ohne ein solches Einverstän­dnis kann Gemeinsame­s nicht gelingen.

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 ?? WILLI PLESCHBERG­ER ?? Ein frommer Thoraschre­iber in Masada. Die Aufmerksam­keit dem Wort und seiner schöpferis­chen Kraft gegenüber ist zentral für das Judentum
WILLI PLESCHBERG­ER Ein frommer Thoraschre­iber in Masada. Die Aufmerksam­keit dem Wort und seiner schöpferis­chen Kraft gegenüber ist zentral für das Judentum
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