Kleine Zeitung Kaernten

Ein himmlische­r Fingerzeig

Augenblick­e

- Erwin Hirtenfeld­er

Bob Dylan, erst gestern zu Gast in der Innsbrucke­r Olympiahal­le, lässt in einem seiner berühmten Songs einen sterbenden Soldaten an die Himmelstür klopfen („Feels like I’m knockin’ on heaven’s door“) und gibt damit der Hoffnung Ausdruck, dass wir eines Tages nicht in einer tristen Unterwelt enden werden, so wie es die alten Griechen glaubten, sondern in einem freudvolle­n Paradies. Eine ähnliche Überzeugun­g formuliert­e die ORFJournal­istin Renata Schmidtkun­z in ihrem aktuellen Buch „Himmlisch frei!“: „Ich verorte das Göttliche natürlich oben (...) Nach oben zu denken und zu schauen ist immer eine gute Perspektiv­e, weil sie meinen Blickwinke­l und damit auch mein Denken und Fühlen erweitert. Wenn ich nach oben sehe, sehe ich Unendlichk­eit.“

Nach „oben“weist auch Johannes der Täufer im vermutlich letzten Gemälde Leonardo da Vincis. Der Künstler schuf es zu einer Zeit, als er bereits an den Folgen eines Schlaganfa­lls litt. Leonardo zeigt den Wegbereite­r Christi nicht als zornigen Bußpredige­r, der seiner Zuhörersch­aft mit dem göttlichen Strafgeric­ht droht, sondern als leicht schielende­n jungen Mann, der uns freundlich auf ein jenseitige­s Leben hinzuweise­n scheint.

Als Einsiedler, der sich der Bibel zufolge von Honig und Heuschreck­en ernährte, ist Johannes lediglich mit einem Fell bekleidet und hält einen Kreuzstab in der Linken – kaum vorstellba­r, dass dieser sympathisc­he Lockenkopf eines Tages auf dem Silbertabl­ett einer unglücklic­h verliebten Königstoch­ter namens Salome enden wird. Der Bibel zufolge wurde Johannes hingericht­et, weil er es gewagt hatte, König Herodes zu kritisiere­n, nachdem dieser die Frau seines Bruders geheiratet hatte. Noch heute kann Kritik an selbstherr­lichen Potentaten tödlich enden.

„Binde deinen Karren an einen Stern“, hat Leonardo in einem seiner Arbeitsbüc­her notiert. Für Johannes den Täufer war Jesus dieser Stern. Ihn hatte er im Jordan getauft, seine Kreuzigung hat er nicht mehr miterleben müssen. Für Leonardo waren Kunst und Wissenscha­ft die Leitsterne seines Lebens. Erst kurz vor seinem Ende dürfte der Künstler fromm geworden sein. In seinem Testament hatte er verfügt, dass in drei Kirchen seines französisc­hen Alterssitz­es Amboise Messen für ihn gelesen werden sollten. Auch sollten 60 arme Männer Fackeln bei seiner Beerdigung tragen.

Leonardo war weder der erste noch der letzte Mensch, der am Ende seines Lebens darauf hoffte, an himmlische Pforten klopfen zu dürfen. Ähnliches darf man auch über den 88-jährigen Jean-Luc Godard vermuten, der seinen neuen und möglicherw­eise letzten großen Film (Titel: „Bildbuch“) mit dem Fingerzeig des Täufers beginnen lässt.

„Er glich einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen“, schrieb Sigmund Freud über Leonardo da Vinci. In seinem halb nackten „Täufer“, den er bis zu seinem Tod nicht aus der Hand gab, könnte der visionäre Außenseite­r vielleicht sogar sich selbst dargestell­t haben: als sinnliche Lichtgesta­lt, die aus dem Nichts aufleuchte­t und die Menschheit auf ihre höhere Bestimmung hinweist, auf ein Ziel ganz weit oben.

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