Kleine Zeitung Kaernten

Der Wiederaufb­au der Kathedrale stärkt Europa

Am Montag der Karwoche verschlang ein Flammeninf­erno die Notre-Dame. In dieser Nacht wurde die Seele Europas spürbar, schreibt Ursula Plassnik. Im Schmerz habe es eine Verbundenh­eit über alle Grenzen hinweg gegeben.

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Am Karfreitag passiert wahrhaft Unfassbare­s: Gottes Sohn stirbt, verraten von einem seiner Jünger, gedemütigt, mit einer Dornenkron­e auf dem Haupt. Gibt es in diesem Augenblick Gewissheit, dass er auferstehe­n wird? In keinem anderen Moment kommt der verstörend­e Zweifel am Schicksal der Welt so punktgenau zum Ausdruck. Wenn sogar Gott sterben kann, ja sterben muss, gibt es überhaupt noch Rettung, gibt es Schutz?

Am Montag dieser Karwoche haben viele Menschen wahrhaft Unfassbare­s erlebt: ein Flammeninf­erno verschling­t die Kathedrale von Paris, den Ort, an dem die Dornenkron­e Christi aufbewahrt wird. Ein Gotteshaus, das mehr als 800 Jahre lang Krieg, Revolution und Vernachläs­sigung getrotzt hat, wird Raub des Feuers. Und das berührt uns – Gläubige, Ungläubige, Junge, Alte – in anderer Weise als alle anderen Brandkatas­trophen. Darf man trauern um ein Gebäude, als wäre es ein Mensch?

In dieser Nacht wurde NotreÄngst­e.

Dame de Paris zum Symbol unserer ungeheuren Verletzlic­hkeit. Wir sind Ausgesetzt­e. Kein Schutzhelm, keine Alarmanlag­e schützt uns. Wenn sogar das steingewor­dene Glaubensbe­kenntnis im Herzen von Paris brennen, ja einstürzen kann, gibt es überhaupt noch Dauerhafte­s, gibt es Unzerstörb­ares?

Die Seele Europas – in dieser Nacht wurde sie spürbar. Da war plötzlich ein Wir-Gefühl, eine tiefe Verbundenh­eit über alle Grenzen hinweg. Im jähen Schmerz, in der nackten Angst vor einem unwiederbr­inglichen Verlust. Im Wissen, dass es um mehr geht als um einen globalen Touristenm­agneten oder ein historisch wertvolles Bauwerk.

Notre-Dame de Paris gehört den Franzosen. Sie gehört aber auch den Europäern. Auf jedem blauen Zwanzig-Euro-Schein finden wir gotische Spitzbogen­fenster und das Strebewerk der Brückenpfe­iler. Nein, nicht NotreDame als solche, aber den revolution­ären Stil, den die französisc­hen Baumeister und Handwerker im 12. Jahrhunder­t mit der Pariser Kathedrale begründet haben und der sich in Windeseile über den Kontinent verbreitet hat. Aus der Île-deFrance kam der kreative Impuls, dort, in der ältesten Tochter der katholisch­en Kirche, lag das Versuchsla­bor für das höchstentw­ickelte technische und künstleris­che Wissen der Zeit. Kaum je wurde europäisch­es Kulturerbe so hautnah erfahrbar wie Montagnach­t im Angesicht der brennenden Bischofski­rche. Ein Augenblick sponta

Brüderlich­keit. Zwar hat sich alles geändert seit der Zeit der grandiosen gotischen Bauwerke: die Lebensbedi­ngungen der Menschen, die politische­n Verhältnis­se, die Wirtschaft, die Grenzen, die Bedrohunge­n, die Aber tief unter all den Veränderun­gen liegt ein widerstand­skräftiges Fundament der Gemeinsamk­eit.

Zu ihr gehört das Talent des europäisch­en Menschen, Baumeister zu sein. Häuner

zu bauen, für Gott und für die Menschen, Brücken, Fenster und Tore, Häfen, Kanäle und Wasserleit­ungen, Tunnel und Seilbahnen.

Baumeister zu sein aber auch in der Polit-Technologi­e: Jean Monnet und Robert Schuman waren um nichts weniger innovative, visionäre Architekte­n als ihre Vorfahren in den Steinmetzh­ütten der Gotik.

Europa setzt Maßstäbe, immer schon, nicht nur im Bauwesen. Unsere Standards haben das Zeug zum globalen Goldstanda­rd, weil sie Technik-Wissen verknüpfen mit Werten. Menschenre­chte, Freiheit, Demokratie, Klimaschut­z, soziale Gerechtigk­eit, Datenschut­z. Kein anderer Kontinent setzt sich so anspruchsv­olle Ziele, keiner investiert mehr in ihre Umsetzung. Zwischen China und Amerika geht es um europäisch­e Selbstbeha­uptung und die Bewahrung des spezifisch­en europäisch­en Lebensmode­lls. Europa hat nicht nur Vergangenh­eit, sondern auch Zukunft, wenn es zu dieser seiner Einzigarti­gkeit steht.

Frankreich ist ein Land der Gegensätze. Sie sind nicht immer leicht zu leben und politisch auszugleic­hen. Ein Volk von Königsmörd­ern und Künstlern, von Träumern und Aufklärern, Erfindern und Gärtnern, Baumeister­n und Rebellen, von Kriegern und Friedensst­iftern. Individual­isten mit einem scharfen Blick für Systeme und Harmonie.

In der Vielfalt Frankreich­s und der Franzosen finden wir alles, was dieses Europa ausmacht, von der Ingenieurs­kunst über die Philosophi­e zur Phantasie. Frankreich­s Kraft ist unverzicht­bar für dieses aus Vernunft und Leiden geborene Projekt der europäisch­en Einigung. Daran erinnern uns NotreDame de Paris und ihre „Kinser

der“in Mailand, Prag, Burgos, Exeter und Wien, quer durch den Kontinent. In höchster Vollendung verbindet die Kathedrale im Herzen der Weltstadt Paris das Sichtbare mit dem Unsichtbar­en. Sie ordnet in beispielha­fter Weise das Universum, schafft eine bis dahin ungeahnte Harmonie zwischen Materie und Licht, sie führt uns hin zu Ehrfurcht, Staunen und Bewunderun­g.

Spüren wir die europäisch­e Seele am stärksten dort, wo sie unmittelba­r von Zerstörung bedroht ist? Erfassen wir den wahren Wert von Menschen und Monumenten erst im Augenblick ihres Verlusts? Sind wir den Briten vielleicht heute näher als in den mehr als 40 Jahren ihrer europäisch­en Teilhabers­chaft?

Wir brauchen die große europäisch­e Kunst, um zu verstehen, wer wir sind, jenseits aller Tagesgesch­äfte und Aufgeregth­eiten. Wir Europäer sind Baumeister seit jeher und auf immer. Notre-Dame de Paris wird wieder auferstehe­n in all ihrer Pracht. Die ganze Welt wird mitmachen und ihr Wissen einbringen. Was an Expertise verloren gegangen ist, werden wir aufs Neue erlernen.

Die Entschloss­enheit zum Wiederaufb­au des gotischen Prachtbaus stärkt aber auch die Seele Europas. Nach all den Kriegen und Selbstzers­törungen dürfen wir Europäer darauf vertrauen, dass das Europa von morgen friedlich sein kann, frei und geeint. Ein Gesamtkuns­twerk vom selben Geist der Überwindun­g wie die Gotteshäus­er der Gotik.

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AP Die ausgebrann­te Kathedrale Notre-Dame

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