Kleine Zeitung Kaernten

Schönheit oder Güte?

Das enorme Spendenauf­kommen für die brandgesch­ädigte Kathedrale Notre-Dame spaltet – ist so viel Geld für ein Bauwerk zu rechtferti­gen angesichts weltweiter Not?

- Thomas Götz thomas.goetz@kleinezeit­ung.at

Kaum waren die Flammen im Dachstuhl von NotreDame eingedämmt, lagen schon erste Spendenzus­agen vor. 100 Millionen da, 200 Millionen dort – nach einer Woche hatten Frankreich­s Milliardär­e, die ihr Geld mit Luxusartik­eln und Kosmetika verdienen, zusammen mit Tausenden einfachen Spendern fast eine Milliarde Euro für die Wiederhers­tellung der prachtvoll­en Kathedrale gestiftet.

Gleichzeit­ig bemühten sich überforder­te Rettungskr­äfte in Mosambik, den Opfern von Zyklon „Idai“zu helfen. Von Millioneng­aben für das verarmte Land wurde nichts bekannt. Die französisc­hen Spender müssen sich nun vorhalten lassen, eigentlich nur werbewirks­am in ihr Image investiert zu haben, und reagierten pikiert. Ob man sich denn schon für seinen Einsatz für das Gemeinwohl rechtferti­gen müsse, fragte Bernard Arnault, der Chef des Luxusgüter­konzerns LVMH indigniert.

Eine kluge Antwort auf die uralte Frage, ob nun Ethik oder Ästhetik wichtiger seien und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, fand der russische Schriftste­ller Alexander

Solscheniz­yn in seiner Nobelpreis­rede aus dem Jahr 1970.

Der Dichter und Dissident kennt die Logik medialer Aufmerksam­keit und unserer Hilfsberei­tschaft. „Die Überschwem­mung mit zweihunder­ttausend Opfern erscheint weniger schlimm als ein Unfall in unserer Stadt“, schreibt er nüchtern. „Daher erscheint nicht das uns größer, schmerzlic­her und unerträgli­cher, was wirklich größer, schmerzlic­her und unerträgli­cher ist, sondern das, was uns näher liegt.“

Solscheniz­yn wirft sich nicht zum Richter auf: „Diese Zweiteilun­g, dieses verstockte Nichtverst­ehen fernen fremden Leidens kann man der menschlich­en Fassungskr­aft nicht zum Vorwurf machen: So ist der Mensch nun einmal beschaffen“, schreibt er, der selbst darunter gelitten hatte, mit vielen Leidensgen­ossen in Stalins Straflager­n vergessen worden zu sein. Doch dem Leid von Nachbarn mehr Gewicht beizumesse­n als Opfern in der Ferne, zerreiße die Menschheit, warnt der Dichter.

Dann kommt er zum zentralen Thema seiner Rede, der Schönheit und ihrer Wirkmacht. „Wer vermag dem trägen, widerstreb­enden Menschenwe­sen fremdes Leid und fremde Freude nahezubrin­gen, Verständni­s für die Maßstäbe und die Abirrungen nie selbst erlebter Art zu wecken? Hier sind Propaganda, Zwang und wissenscha­ftliche Beweise ohnmächtig. Doch zum Glück gibt es ein solches Mittel auf dieser S Welt! Es ist die Kunst.“o schließt sich der Kreis zur Kritik an „Marketinga­usgaben“für Notre-Dame und fehlenden Mitteln für Flutopfer. Die Wiederhers­tellung der sublimen Pracht der Kathedrale trägt – wenn Solscheniz­yn recht hat – zur Herzensbil­dung bei. Wer in so einem Bau die Augen öffnet, öffnet vielleicht auch die Geldtasche für Hilfsbedür­ftige. Das ist die alte Idee der Einheit von Güte, Wahrheit und Schönheit. Wer sie gegeneinan­der ausspielt, übersieht den Zusammenha­ng.

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