Schönheit oder Güte?
Das enorme Spendenaufkommen für die brandgeschädigte Kathedrale Notre-Dame spaltet – ist so viel Geld für ein Bauwerk zu rechtfertigen angesichts weltweiter Not?
Kaum waren die Flammen im Dachstuhl von NotreDame eingedämmt, lagen schon erste Spendenzusagen vor. 100 Millionen da, 200 Millionen dort – nach einer Woche hatten Frankreichs Milliardäre, die ihr Geld mit Luxusartikeln und Kosmetika verdienen, zusammen mit Tausenden einfachen Spendern fast eine Milliarde Euro für die Wiederherstellung der prachtvollen Kathedrale gestiftet.
Gleichzeitig bemühten sich überforderte Rettungskräfte in Mosambik, den Opfern von Zyklon „Idai“zu helfen. Von Millionengaben für das verarmte Land wurde nichts bekannt. Die französischen Spender müssen sich nun vorhalten lassen, eigentlich nur werbewirksam in ihr Image investiert zu haben, und reagierten pikiert. Ob man sich denn schon für seinen Einsatz für das Gemeinwohl rechtfertigen müsse, fragte Bernard Arnault, der Chef des Luxusgüterkonzerns LVMH indigniert.
Eine kluge Antwort auf die uralte Frage, ob nun Ethik oder Ästhetik wichtiger seien und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, fand der russische Schriftsteller Alexander
Solschenizyn in seiner Nobelpreisrede aus dem Jahr 1970.
Der Dichter und Dissident kennt die Logik medialer Aufmerksamkeit und unserer Hilfsbereitschaft. „Die Überschwemmung mit zweihunderttausend Opfern erscheint weniger schlimm als ein Unfall in unserer Stadt“, schreibt er nüchtern. „Daher erscheint nicht das uns größer, schmerzlicher und unerträglicher, was wirklich größer, schmerzlicher und unerträglicher ist, sondern das, was uns näher liegt.“
Solschenizyn wirft sich nicht zum Richter auf: „Diese Zweiteilung, dieses verstockte Nichtverstehen fernen fremden Leidens kann man der menschlichen Fassungskraft nicht zum Vorwurf machen: So ist der Mensch nun einmal beschaffen“, schreibt er, der selbst darunter gelitten hatte, mit vielen Leidensgenossen in Stalins Straflagern vergessen worden zu sein. Doch dem Leid von Nachbarn mehr Gewicht beizumessen als Opfern in der Ferne, zerreiße die Menschheit, warnt der Dichter.
Dann kommt er zum zentralen Thema seiner Rede, der Schönheit und ihrer Wirkmacht. „Wer vermag dem trägen, widerstrebenden Menschenwesen fremdes Leid und fremde Freude nahezubringen, Verständnis für die Maßstäbe und die Abirrungen nie selbst erlebter Art zu wecken? Hier sind Propaganda, Zwang und wissenschaftliche Beweise ohnmächtig. Doch zum Glück gibt es ein solches Mittel auf dieser S Welt! Es ist die Kunst.“o schließt sich der Kreis zur Kritik an „Marketingausgaben“für Notre-Dame und fehlenden Mitteln für Flutopfer. Die Wiederherstellung der sublimen Pracht der Kathedrale trägt – wenn Solschenizyn recht hat – zur Herzensbildung bei. Wer in so einem Bau die Augen öffnet, öffnet vielleicht auch die Geldtasche für Hilfsbedürftige. Das ist die alte Idee der Einheit von Güte, Wahrheit und Schönheit. Wer sie gegeneinander ausspielt, übersieht den Zusammenhang.