„Die Zeit heilt nicht alle Wunden“
Vor fünf Jahren starb Christian bei einem Autounfall. Er war 23 Jahre alt. Ein Gespräch mit seiner Mutter, Elisabeth Meixner, über den Umgang mit Schmerz, Verlust, Trauer und Trost in der Karwoche.
Elisabeth Meixner sitzt in ihrem Büro in der Bildungsdirektion Steiermark, hinter ihrem Schreibtisch stehen ein paar Familienfotos: Christian und sein Bruder Martin, dahinter die Eltern. Strahlend lacht Christians Tochter Luisa in die Kamera. „Sie ist das bezauberndste Mädchen, das es gibt auf der Welt“, sagt ihre Oma und stellt das Foto nachdenklich vor sich auf den Tisch.
Die Zeit heilt alle Wunden, zitiert sie ein gängiges Sprichwort, das trösten soll. Elisabeth Meixner widerspricht dezidiert. „Die Zeit heilt nicht alle Wunden – zumindest nicht auf dieser Seite des Lebens. Ich weiß nicht einmal, ob sie alle Wunden vernarbt.“Fünf Jahre nach dem Tod ihres Sohnes setzt sie sich ein anderes Ziel: „Du musst lernen, damit umzugehen, wie du deine Wunden verbindest. Zu jeder Tages- und Nachtzeit ist das Geschehene Teil deines Lebens, deines Empfindens, deiner Gefühle.“
Wie soll, wie kann man umgehen mit so einem Verlust? Wie ist sie umgegangen damit? Darüber offen reden, rät Meixner. Immer wieder sprechen Menschen sie an. Ihr Reden hilft vielleicht auch anderen, hofft sie. „Ich lege meinen Fokus bewusst aufs Positive, zum Beispiel auf die Arbeit mit den Kindern“, sagt die steirische Bildungsdirektorin. „Das ist für mich einer der Verbände der Wunde.“
Das war schon gleich nach dem Unfall so. Luisa war damals sieben Monate alt. „Dieses kleine Mädchen hat mich gebraucht, weil seine Mutter auch schwer verletzt war, lange im Krankenhaus und dann auf Rehabilitation.“Als der Arzt ihr damals am Tage des furchtbaren Unglücks eine Beruhigungsspritze setzen wollte, wies sie auf den Kinderwagen mit der kleinen Enkelin. Der Arzt hat verstanden – sie brauchte alle ihre Kraft und Geistesgegenwart für das Kind. „Ich habe das Empfinden gehabt, dass mein Sohn mir zusätzlich seine Energie geschickt hat, damit ich alles schaffen kann.“
Das Fortleben über den Tod hinaus ist für die Mutter keine Frage: „Das ist so“, sagt sie schlicht. „Ich habe immer das Gefühl, er ist da, er umgibt mich. Andere leidgeprüfte Mütter haben mir Ähnliches erzählt.“Allerdings verarbeite jeder Mensch schmerzvolle Erfahrungen anders. „Zu Christian ist ein enger Kontakt da – immer, permanent, ständig“, sagt sie in drei Anläufen, fast beschwörend.
Ob sie hadert mit der Zufälligkeit, der Absurdität des Unfalltodes ihres Kindes auf gerader, übersichtlicher Strecke? „Man hadert ständig. Wenn ich an der Unfallstelle vorbeifahre, dann bin ich noch nicht im Frieden mit der anderen Person, die den Unfall verursacht hat, wodurch unbeschreibliches Leid geschehen ist. Das braucht noch viele Jahre, viel länger, als es sich Menschen vorstellen können, die nie ähnliches Leid erfahren mussten.“
An der Unfallstelle steht ein schlichtes Holzkreuz. „Viele Menschen sprechen uns darauf an und sagen ,Wir denken an Sie und Ihre Familie, wenn wir daran vorbeifahren‘. Manche zünden ein Kerzerl an.“Und sie selbst? Meidet sie den Ort? „Nein, ich bleibe immer wieder stehen, noch immer fassungslos, atemlos, still, stumm und zünde eine Kerze an.“Die Unfallstelle ist für sie ein unbeschreiblicher, ganz außergewöhnlicher Ort, der eine surreale Atmosphäre ausstrahlt, ungewohnt in ihrem Umfeld, von Schwermut und Verzweiflung geprägt und begleitet. Ihr Kind hat dort das irdische Leben
E verlassen. in Gedanke quält die Mutter bis heute: „Einer der schmerzlichsten Punkte ist zu wissen, dass ich nicht bei ihm war.“Trotz der schrecklichen Bilder, die sie damals schon bald im Internet gesehen hatte von den ineinander verkeilten Autos, wäre die Mutter lieber bei ihm gewesen. „Ich habe ihn geboren ... Ich überwinde schwer, dass mein Kind in den Armen eines fremden Menschen verstirbt, auch, wenn er ein guter Mensch ist. Das Gefühl, mich nicht verabschiedet zu haben, hat mich immer sehr belastet. Andere Eltern haben ähnlich empfunden.“Dass in Hospizen fremde Menschen die Hand Sterbender halten, ist für sie deshalb eine nur bedingt tröstliche Vorstellung. „Ich glaube, die Hilfe kann für mich nur darin bestehen, jemanden zu suchen, der in enger Beziehung stand zum Sterbenden.“
Ihre Enkelin Luisa weiß, dass ihr Vater nicht mehr lebt. „Als sie in den Kindergarten gegangen ist, hat sie sich Argumente zurechtgelegt für die Frage ,Wann kommt dein Papa?‘. ,Den Papa gibt’s hier nicht, der ist im Himmel‘, hat sie dann gesagt. Sie redet ganz nüchtern und offen darüber und will, dass ich ihr Geschichten von ihrem Papa erzähle.“Wie es passiert ist, weiß Luisa nicht, aber sie fragt danach. „Wenn blauer Himmel ist, sagt sie: ,Ich hab das Gefühl, der Papa schaut zu mir herunter.‘ Kinder können damit viel besser umgehen, als Erwachsene erahnen können.“
hat ihr geholfen in den schweren Tagen, Wochen und Jahren seit dem Schock? Das Umfeld der Großfamilie nennt Meixner, die Mutter, fünf Schwestern und drei Brüder, Schwägerinnen, die da sind, wenn man sie braucht, und sich zurückziehen, wenn sie spüren, die Trauernde benötigt Ruhe. Und ihre eigene Familie, ihr Mann, Freunde. Und die Natur. Spaziergänge im Wald fallen ihr ein und die Zyklen der Natur, des Lebens. Der Tagesrhythmus, die Jahreszeiten, die Sonntagsruhe. „Natürliche Kreisläufe“, nennt Elisabeth
V
Meixner es. iele Kinder lernen das nicht mehr, fürchtet die leidenschaftliche Pädagogin. Sie spüren die Natur nicht mehr, das Werden und Vergehen, Erblühen, Reifen, Verwelken. „Das ist aber notwendig, damit sie zu Tiefwurzlern werden, Bezug zur Natur finden“, betont sie. „Am Nachmittag sind kaum Kinder zu sehen. Man hat das Gefühl, das Land hat seine Kinder verschluckt. Kinder werden oft zu sehr behütet, nicht in die SelbstWas ständigkeit losgelassen, das ist nicht gut.“Und noch ein Rat: „Es schadet nicht, wenn Kinder mehrere Bezugspersonen haben.“
Wie gehen die Männer in ihrer Familie mit dem Unglück um? „Männer trauern anders“, behauptet Frau Meixner. „Sie reden weniger über Gefühle und werden auch seltener darauf angesprochen. Sie legen den Fokus auf andere Dinge, Dinge, die ihnen in der Seele guttun.“Christians Freunde, Fußballer und Angler wie er, treffen sich immer um seinem Todestag zu einem „Gedenkfischen“am Teich in der Nähe des Hauses der Familie. „Es wird nicht viel geredet, es ist eine ganz eigene Stimmung der Stille, des freundschaftlichen Miteinanders, zutiefst verbundener, innig gewachsener Jugendbande.“
Gibt es einen Rat, den sie Eltern geben kann, die Ähnliches durchmachen müssen? „Es liegt bei dir selber, was du daraus machst. Ich kenne Eltern, die sind in sich zusammengesackt und sind aus dem Tief nie mehr herausgekommen. Das, habe ich gewusst, darf nicht passieren.“„Fröhlich sein und die Spatzen pfeifen lassen“sei der Leitspruch von Christian gewesen. Immer, wenn sie Todesanzeigen sieht, achtet sie auf das Alter. „Wenn es ein junger Mensch ist, der verstorben ist, denke ich mir,
E oh Gott, was euch erwartet!“in paar Gedanken, die ihr wichtig sind in dem Zusammenhang, hat Elisabeth Meixner in einem Heft aufgezeichnet: „Da ist jemand hinter dem Tor des Himmels, unser Sohn Christian, der Bruder meines Sohnes Martin, der Vater der kleinen Luisa“, steht da. „Einmal sehen wir uns wieder – das hoffen wir.“Genau das meint für sie der Satz von Paulus: „Der Tod hat keinen Stachel mehr.“