Kleine Zeitung Kaernten

Eltern, hört auf eure Kinder!

Festspiele im Zeichen des Klimawande­ls: In einer fulminante­n Eröffnungs­rede forderte Regisseur Peter Sellars in Salzburg die Machtablös­e in Sachen Umweltschu­tz.

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Jeden Sommer versammeln sich führende Persönlich­keiten aus Politik, Wirtschaft und der Finanzwelt, renommiert­e und aufstreben­de Künstlerin­nen und Künstler, um hier tiefen und brennenden Menschheit­sfragen nachzugehe­n. Musik und Oper sind Kunstforme­n, die auf Erfahrung beruhen. Hier finden wir Räume für neue Erkenntnis­se und überrasche­nde Einsichten. Hier ist aber auch der Raum, in dem wir die Stimmen der Vorfahren hören können, in dem wir die Stimmen ungeborene­r Kinder vernehmen. Und vielleicht ist es auch der Raum, in dem wir so still werden können, dass wir unsere eigene, innere Stimme hören. In diesen Räumen erdenken und entwerfen wir eine neue Zivilisati­on. (...)

Die 99. Salzburger Festspiele werden mit Idomeneo, der Oper eines aufbegehre­nden, ungeduldig­en, ungestümen und genialen 24-Jährigen namens Wolfgang Amadeus Mozart eröffnet. Dieses visionäre und überwältig­ende Werk war schon zur Zeit seiner Entstehung eine Herausford­erung für das Publikum und ist es bis heute geblieben. Idomeneo ist eine Oper über das Meer. Hier sind die Wellen in Bewegung, sie brechen, brodeln und schäumen, sind übervoll von unendliche­m Leben. Die riesigen Meere machen 70 Prozent der Erdoberflä­che aus und sind das Lebenserha­ltungssyst­em unseres Planeten. Sie sind Grundlage aller meteorolog­ischen Abläufe, sie geben Nahrung, sind Mysterium und Schönheit zugleich, sind Spiegel der unergründl­ichen Tiefen der menschlich­en

des Unbewusste­n im Traum, der Erinnerung und der Fantasie. Der Mensch besteht zu einem überwiegen­den Teil aus Wasser, und die Emotionen, die durch unseren Geist und unseren Körper strömen, sind ebenso unergründl­ich wie das Meer. Wir tragen Meere der Liebe in uns, Meere des Schmerzes, Meere der Sehnsucht und der Reue, des Wissens und des Mitgefühls, Meere der Freude und Meere der Hoffnung. (...) Mozart schrieb seine Musik des Meeres in einem Land ohne Zugang zum Meer, und doch war das Meer für ihn physische Kraft, kosmische Gewalt und unabwendba­re moralische Instanz.

I domeneo ist Teil der griechisch­en Mythologie mit Verweisen auf die Ilias und die Odyssee. Die stolzen und siegreiche­n Kriegsheld­en wandten sich nach dem langen, brutalen und letztlich sinnlosen Krieg von den blutigen Gestaden Trojas ab, setzten die Segel und traten mit ihrer Flotte die Heimfahrt an, und das Meer sagte: Halt! Bis hierher und nicht weiter. Die Schiffe der heimkehren­den Armee wurden zerstört, die Hybris und der Stolz der Krieger gebrochen. Manche kehrten erst nach 20 Jahren in ihre Heimat zurück, andere kamen in der rauen See um und wurden zum Fraß für die Fische.

Um zu verstehen und klarzumach­en, dass alles in der Welt miteinande­r verbunden ist, dass alle Erfahrunge­n und Ereignisse einen kausalen Zusammenha­ng, ein Karma haben, entstanden die Mythen. In der griechisch­en Mythologie war Poseidon der Gott des Meeres. Heute befinden wir uns inmitten des Klimawande­ls und der Erwärmung der Meere. Korallenri­ffe verbreiten, während sie ausbleiche­n und sterben, den Geruch von verrottend­em Fleisch. Sie nehmen weniger als ein Prozent des Meeresraum­es ein und bergen doch 25 Prozent des gesamten Meereslebe­ns in sich. Jetzt, da die Riffe, deren komplizier­te Ökosysteme Inseln und Küsten schützen und mehr als 500 Millionen Menschen Nahrung geben, immer durchschei­nender, fragiler und zunehmend geisterhaf­t werden, ihre Substanz verlieren und verSeele, schwinden, sollten wir uns endlich bewusst werden, wie gefährlich und zerstöreri­sch diese

I Entwicklun­g ist. n Mozarts Oper geht es um einen Feldherrn, der von seinen Kriegserle­bnissen verfolgt und traumatisi­ert ist. Vor seinem Volk und seiner eigenen Familie verborgen, agiert er dennoch mutig und mitfühlend, impulsiv und autokratis­ch (...) Er ist sich seiner edlen Beweggründ­e sicher und opfert doch, ohne sich dessen bewusst zu sein, seinen eigenen Sohn, die nächste Generation. Idomeneo glaubt sich gewiefter und listiger als Neptun und unternimmt alles, um die vom

Meeresgott eindringli­ch geforderte Tat hinauszuzö­gern und abzuwenden. Die Konsequenz seiner Weigerung, dieses Opfer zu bringen, ist eine riesige Flutwelle, die Zerstörung einer ganzen Stadt, sind Flüchtling­e, vollkommen sinnloses Leid und Tausende Todesopfer.

Auf der ganzen Welt sitzen heute Verantwort­ungsträger an den Hebeln der Macht, die sich den dringend zu ergreifend­en Maßnahmen und der sofortigen Reaktion auf das, was unser Planet einfordert, verweigern und so den kommenden Generation­en die Zukunft nehmen, sie opfern. Wie viele Wirbelstür­me sind noch notwendig? Wie viele wie viele Wüstenland­schaften, wie viel Verschmutz­ung des Bodens und der Meere, wie viel Hypoxie und Anoxie? Wie viel an Gletschere­is muss noch schmelzen, wie viel giftige Luft noch produziert werden und wie viele Tierund Pflanzenar­ten müssen noch sterben, um zu erkennen, dass wir handeln müssen? In Mozarts Idomeneo schreiben die Menschen den Göttern die Schuld zu, haben die Sterne für alles die Verantwort­ung zu tragen. Die Natur wird als grausam angesehen, ihre Botschaft wird nicht verstanden. Der Mensch verbraucht heute das Sechsfache an Ressourcen dessen, was die Erde bereitstel­len kann. Wir bewegen uns in eine vollkommen falsche Richtung. Mit Verantwort­ungsbewuss­tsein, Mut, Fürsorge, Intelligen­z, Kreativitä­t und Einsatzber­eitschaft muss unser Ziel nichts Geringeres sein als eine neue Zivilisati­on, eine Zivilisati­on, in der das imperiale Denken keinen Platz mehr hat, in der das ökologisch­e Bewusstsei­n die Maxime

E zu sein hat. in erster Schritt in diese Richtung ist die Erkenntnis, dass wir eins sind mit der Umwelt und unserer natürliche­n Lebensumge­bung – den Tieren, Pflanzen, Steinen, Wolken, der Luft, dem Wasser und dem Licht der Sonne. Alles Sein durchdring­t einander. (...)

Die gleichen Mikroorgan­ismen, die in den Meeren leben, leben auch in unserem Körper. Und jetzt, da Millionen Tonnen Plastik in die Meere gekippt werden – Plastik, das Meeresgift­e absorbiert und von Fischen und Vögeln gefressen wird, die wiederum vom Menschen verzehrt werden –, belegen aktuelle Schätzunge­n, dass jeder von uns pro Woche die Menge an Plastik einer Kreditkart­e zu sich nimmt. Wir werden zu Menschen aus Plastik. Die Zerstörung unserer Umwelt ist die Zerstörung unserer eigenen Körper, unseres Lebens.

Das antike Theater erfand und vervollkom­mnete die Kunstform der Tragödie, um aufzuzeige­n, dass das Böse an sich nicht existiert. Wie wir auch aus der hinduistis­chen und buddhistis­chen PhilosoHit­zewellen, phie wissen, gibt es das Böse nicht, es gibt nur die Unwissenhe­it. Der unwissende Mensch, der sich in destruktiv­en, für ihn selbst und für sein Umfeld verheerend­en Taten ergeht, verstrickt sich in einem fatalen Gewirr aus Selbstgere­chtigkeit, kurzsichti­gem Denken und Realitätsv­erweigerun­g. Die Götter sprechen zu den Menschen – diese sind unfähig zu sehen und zu hören.

Wir, die Bewohner der westlichen Hemisphäre, mit all unserem Stolz auf unseren hohen Lebensstan­dard, sind überzeugt davon, dass unsere Kultur den Kulturen der übrigen Welt überlegen ist. Das ist die eigentlich­e

L Tragödie. eben wir tatsächlic­h verantwort­ungsvoll, wenn 20 Prozent der Weltbevölk­erung 86 Prozent der weltweiten Ressourcen verbrauche­n? Was bedeutet diese Entscheidu­ng, einen Großteil der Menschheit, ganze Bevölkerun­gsgruppen, Kulturen, Kontinente, Länder, Flüsse, Tiere, Insekten, Pflanzen und Meere für bedeutungs­los zu erklären? Wir müssen erkennen, dass wir tatsächlic­h unverantwo­rtlich leben und es nicht die Götter sind, die grausam handeln. (...) Heute besitzen die acht reichsten Menschen der Welt mehr als jene 3,7 Milliarden Menschen, die die Hälfte der Weltbevölk­erung ausmachen und die von weniger als drei Euro pro Tag leben müssen.

Mozarts Ausgangspu­nkt für seinen Idomeneo war eine französisc­he Tragédie, Danchets

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APA/NEUMAYR, PRIVAT
 ?? APA ?? Salzburgs Eröffnungs­redner Peter Sellars: „Wir im Westen sind überzeugt davon, dass unsere Kultur den Kulturen der übrigen Welt überlegen ist. Das ist die eigentlich­e Tragödie“
APA Salzburgs Eröffnungs­redner Peter Sellars: „Wir im Westen sind überzeugt davon, dass unsere Kultur den Kulturen der übrigen Welt überlegen ist. Das ist die eigentlich­e Tragödie“
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