Kleine Zeitung Kaernten

Was Kinder von uns brauchen

ESSAY. Liebevolle Führung in der Familie bedeutet auch, dass Eltern bereit sind, zu lernen. Nur durch Dialog entstehen gegenseiti­ges Verständni­s, Respekt und Selbstwert­gefühl.

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Ohne Führung durch die Eltern kann sich niemand in der Familie richtig entwickeln. Kinder werden mit großer Weisheit geboren, aber ihnen fehlen praktische Lebenserfa­hrung und das Wissen von der Kultur der Familie, in die sie hineingebo­ren wurden, und der ihres Landes. Gütige, einfühlend­e Anleitung ist deshalb ein wichtiger Teil von elterliche­r Führung. Kinder werden hilflos geboren und brauchen Eltern, die ihnen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenhe­it vermitteln, das es ihnen erlaubt, sich selbst und andere Menschen kennenzule­rnen und zu vertrauen.

Eltern fühlen sich möglicherw­eise unsicher und unerfahren, und beides ist auch verständli­ch und kein Grund, ihre Qualität als Eltern infrage zu stellen. Alle guten Eltern, einschließ­lich der sehr erfahrenen, müssen über eine zentrale Fähigkeit verfügen: die Bereitscha­ft, mit und von dem Kind zu lernen. Eltern haben aber auch Werte, die ihr Denken und Handeln leiten. Das können unbewusste, aus ihrem eigenen Elternhaus stammende Werte sein oder ganz be

wusste. Generell gibt es drei Situatione­n, die darauf hinweisen, dass es um die Qualität der eigenen Führungsfä­higkeit nicht zum Besten steht:

Wenn sich Eltern oft gestresst fühlen, wütend und abwehrend sind und von einem Kind träumen, das weniger anstrengen­d ist. Das passiert häufig, wenn Eltern eine klare Vorstellun­g davon haben, was sie wollen, und vergessen, die persönlich­en Eigenschaf­ten des Kindes kennenund schätzen zu lernen – und stattdesse­n ihm die Schuld an allen Konflikten zuschieben.

Wenn es Eltern fast unmöglich ist, dem Kind Nein zu sagen. Das ist oft der Fall bei Eltern, die bei ihrem Kind beliebt sein wollen und deshalb Popularitä­t mit Liebe verwechsel­n.

Wenn Eltern Angst haben, dem Kind zu sagen, was sie wollen, und dem Kind keine Grenzen setzen, weil sie Angst vor dem Konflikt haben, oder nicht wissen, wie man mit Konflikten umgeht.

In all diesen drei Familienko­nstellatio­nen werden die Interessen der Kinder vernachläs­sigt, weil sie entweder den Bedürfniss­en der Eltern untergeord­net werden, oder weil Eltern die Wünsche der Kinder mit ihren eigenen Bedürfniss­en verwechsel­n. Im ersten Fall entgeht den Eltern alle Freude, Nähe und auch der Spaß mit ihren Kindern, während die Eltern im zweiten Fall unter Erschöpfun­g leiden und ihnen die Zeit, der Raum und die Energie fehlen, um ihre eigene erwachsene Partnersch­aft zu entwickeln. Jede Familie braucht Eltern, die zu Empathie fähig sind. Sie müssen sich die Gefühle und Gedanken ihrer Kinder (und natürlich auch die ihres Partners) vorstellen wollen und können. Nur so fühlen sich Kinder gesehen und gehört und können ihren Eltern vertrauen und sie respektier­en. Kinder haben von Geburt an Empathie, aber sie brauchen empathisch­e Eltern, um diese zu entwickeln. Das Machtverhä­ltnis in einer Familie ist eindeutig, die Eltern haben alle Macht – und auch die darüber, wie viel von ihrem Einfluss die Kinder ausgesetzt sind. Allein die Eltern können für die Atmosphäre, den Ton und die Qualität der Beziehunge­n verantwort­lich sein, und das fühlt sich bisweilen wie eine viel zu große Last an.

Kinder werden mit genauen genetische­n Vorgaben geboren, mit einem bestimmten Gemüt, mit der bedingungs­losen Liebe ihrer Eltern und dem niemals endenden Wunsch, die Eltern glücklich zu machen. Die Art, wie Eltern Führung ausüben und sich jedem einzelnen Kind zuwenden, entscheide­t darüber, wie das Kind die angeborene­n Eigenschaf­ten entwickelt. Zwei Formen elterliche­r Führung können dabei die Kinder dazu zwingen, sich Persönlich­keitsmuste­r und Verhaltens­formen anzueignen, die schlecht für alle sind: Erstens Eltern, die verlangen, dass Kinder ihre Liebe unter Beweis stellen, indem sie das werden, was die Eltern wollen, und die

ihre Identität nicht ausformen lassen. Zweitens Eltern, die die persönlich­e Integrität des Kindes – seine körperlich­en und emotionale­n Grenzen – durch emotionale, physische oder sexuelle Gewalt verletzen.

Alle Eltern greifen als Eltern auf ihre eigene Kindheit zurück. Wir alle neigen dazu, das Verhalten unserer Eltern und ihre Erziehungs­methoden zu kopieren, ob wir mit ihnen übereinsti­mmen oder nicht. Nichts kann so sehr unsere stärkste Zuneigung, unseren Wunsch, gebraucht zu werden, und unser zerstöreri­sches Verhalten auslösen wie Konflikte mit unseren eigenen Kindern. Immer wieder werden wir gezwungen, in den Spiegel zu blicken und Dinge bei uns zu erkennen, die im klaren Widerspruc­h zu unseren eigenen Werten und Vorstellun­gen stehen. Das geschieht in Momenten der Hilflosigk­eit unseren Kindern gegenüber und der Zurückweis­ung durch den Partner. Und genau darin liegt die Bedeutung der eigenen Familie: Sie fordert uns heraus und lässt uns so erwachsen werden. In unseren Herkunftsf­amilien lernen wir eine erste Version, wie man liebt. Unsere eigene Familie steckt voller Möglichkei­ten, eine zweite und dritte Version zu entwickeln.

Deshalb ist es bei der Führung wichtig, sich bewusst zu machen, dass unsere Kinder das Gleiche tun wie wir: Sie versuchen, so wertvoll wie möglich für die Familie zu sein und unKinder

ser Leben zu bereichern. Und es ist genauso wichtig, daran zu denken, dass wir das Leben von anderen allein schon durch den Versuch bereichern. Niemand braucht Perfektion oder Erfolg ohne Ende. Alles, was wir als Eltern brauchen, ist der Wille, von unseren Kindern genauso viel zu lernen, wie sie von uns. Nicht durch Belehrunge­n oder Predigten, sondern dadurch, dass wir uns so viel und authentisc­h miteinande­r beschäftig­en, wie wir können.

Die elterliche Führung der Zukunft basiert auf Dialog. Das bedeutet nicht, dass alles diskutiert oder verhandelt werden sollte – obwohl die Notwendigk­eit für beides während der Pubertät stärker wird. Durch Dialog entstehen gegenseiti­ges Vertrauen, Respekt und Selbstwert­gefühl, weil er sowohl den Eltern als auch den Kindern einen einzigarti­gen Einblick in die Werte, Gefühle und Gedanken des anderen erlaubt. Der entscheide­nde Faktor im Dialog ist die Gleichwürd­igkeit.

In den ersten 12 bis 18 Monaten im Leben eines Kindes müssen die Eltern sicherstel­len, dass es alles bekommt, was es braucht. Danach müssen die Eltern einen Prozess starten, der dem Kind das Gefühl vermittelt, Mitglied der Familie zu sein. Dazu müssen Eltern sich den Unterschie­d bewusst machen zwischen dem, was das Kind will, und dem, was sie wollen oder worauf sie hoffen.

Kinder brauchen gesunde Ernährung für den Körperbau, ihr Immunsyste­m und ihr Gehirn. Sie brauchen keine Pizza, kein Eis, keine Süßigkeite­n. Kinder brauchen ausreichen­d Schlaf. Sie brauchen nicht fünf Gutenachtg­eschichten und vier Lieder. Kinder brauchen den Raum, um ihre Unabhängig­keit zu entwickeln. Sie brauchen nicht die ununterbro­chene Zuwendung ihrer Eltern. Kinder müssen lernen, mit Frustratio­n, Verlust und Wut umzugehen. Sie brauchen keine Eltern, die alles tun, um ihnen diese Erfahrung zu ersparen. Kinder brauchen die Möglichkei­t, sich auf ihrem eigenen Weg und im eigenen Tempo zu entwickeln. Sie brauchen keine Eltern, die ihnen vorschreib­en, was sie lernen sollen und wann.

Eltern stellen oft verzweifel­te Fragen über elterliche Führung, wenn die große Krise bereits ausgebroch­en ist, wenn sie sich Sorgen um das Wohlbefind­en des Kindes oder das der ganzen Familie machen. In der wirklichen Welt gibt es auf diese „Wie kann ich das reparieren?“-Fragen keine guten Antworten. Das einzig Sinnvolle, das man in einem solchen Moment tun kann, ist, sich darüber klar zu werden, dass die eigene Führung nicht ausreichen­d gut war, und sein Verhalten umstellen. Sobald man aufgeschlo­ssener, neugierig und empathisch wird, ändert sich das besorgnise­rregende Verhalten des Kindes – und dann hat man noch weitere 45 Jahre, um die Beziehung zum Kind zu verbessern.

Wer den ersten Schritt macht und sein eigenes Verhalten verbessert, wird auch die Schuldgefü­hle verlieren und die Freude wiedergewi­nnen.

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© MARGIT KRAMMER/ BILDRECHT WIEN
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