ESSAY AM SAMSTAG | Peter Strasser: Wie viel Wahrheit braucht die Demokratie?
ESSAY. Eine Demokratie, die nicht mehr an die Wahrheit glaubt, hat innerlich bereits kapituliert. Was bleibt, ist das Recht des Stärkeren.
Österreich ist dabei, ein Tollhaus der Lügen zu werden, besonders jetzt, da uns nationale Wahlen ins Haus stehen.“Derjenige, der meinen Wahrheitsoptimismus erschüttern wollte, war ein politischer Kommentator, seines Zeichens Pessimist. Hatte er triftige Argumente?
Andauernd werden uns „Wahrheiten“aufgetischt, die in Wahrheit Zwecklügen sind. Man wird für die Jungen und Alten sorgen, die Mittelschichten entlasten, die Wirtschaft „brummen“lassen. Man wird hundert Prozent Transparenz durchsetzen. Man wird fürs Klima und dafür eintreten, dass das Wiener Schnitzel leistbar bleibt. Der Sozialstaat muss schlank, die islamistische Bedrohung gestoppt werden …
Auf meine Erwiderung hin, dass sich darunter durchaus Bedenkenswertes finde, wurde mir entgegnet, ebendies sei ja der Dreh. Es darf nicht alles gelogen sein. Glaubwürdigkeit wird indessen für das Wahlvolk zusehends weniger zu einer Frage der besseren Argumente, sondern des Verkaufsstils. Es zählt die Wahrheitsperformance, nicht die Wahrheit an sich. Hochstapler werden bejugang
während Besonnenheit selten Gehör findet. Der politische „Mitbewerber“kann sagen, was er will – er hat von vornherein unrecht.
Klimawandel? Eine Erfindung der Grünen! So tönte es lange Zeit. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer? So reden bekanntlich nur Sozis und Kommunisten. „Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million …“: Antisemitismus in den nationalen Burschenschaften? Unsinn, höchstens da und dort ein Ausrutscher, wird aber nicht wieder vorkommen!
Ich musste zugeben: Unsere Politiker hatten nicht erst von Donald Trump & Co. ihre Lektion gelernt. „Fake News“– ein Klassiker. Unliebsame Autoritäten rückte man seit jeher in ein schiefes Licht. Sogar die Höchstgerichte werden, wenn’s sein muss, der Parteilichkeit geziehen – ein brandgefährlicher Vorwurf. Mit dem Zweifel an der Wahrheitstreue der Hoheitsträger, bis hinauf zum Bundespräsidenten, wird der
H Rechtsstaat diskreditiert. ierzulande befinden wir uns unter dem Eindruck des berüchtigten Ibiza-Videos, das bereits vom Juli 2017 stammt. Das Video zeigt zwei berauschte Spitzenpolitiker, während sie – grob gesprochen – unsere Demokratie an einen russischen Oligarchen verkaufen möchten. Ihre Partei wurde, wie Umfragen zeigen, vorläufig kaum beschädigt. Und auch die IbizaAkteure kamen im Stammwählerurteil glimpflich davon, obwohl ihre langjährige Saubermannattitüde eine Maskerade war: ein Lügengespinst ohne schlechtes Gewissen über die eigene Verkommenheit.
Es ließen sich Vorfälle aus anderen Parteien nennen, was Postenschacher, verbotene Geldannahme und unterschiedliche Versuche angeht, Machinationen zu verschleiern. Noch immer steht im Raum, warum vor einigen Monaten ein Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes einen ansonsten üblichen Vorbelt, aussehen ließ, als ob unangenehme Wahrheiten „entsorgt“werden sollten: Unter falschem Namen wird die Firma Reisswolf beauftragt, fünf amtliche Festplatten zu schreddern, nicht ein Mal, nicht zwei Mal, nein, gleich drei Mal …
Und nun die eigentliche Frage: Kann eine Demokratie, zumal eine liberale, unter solchen Bedingungen auf Dauer funktionieren, ohne „illiberal“zu werden? Gewonnen hätte dann
der die Wählerschaft am besten zu mobilisieren, ihre Ängste zugleich anzuspornen und einzulullen versteht, wobei es keine Rolle spielt, falls seine Botschaft ein Sammelsurium aus Halbwahrheiten
D und Lügen ist. azu passend steht zu vermuten, dass viele Menschen insgeheim schönrednerische Vorspiegelungen regelrecht herbeisehnen, um sie inbrünstig für halten zu dürfen. Eine derartige Haltung signalisiert den Anfang vom Ende wahrheitsorientierter Bemühungen, nach allgemein akzeptablen Prinzipien für das gemeinsame Wohl im Staat zu suchen.
Deshalb lautet ein Teil der Erklärung für den politischen Schamverlust beim Lügenverbreiten: Die Bürgerinnen und Bürger werden zunehmend anfällig für Personen, die sich als „Führer“, Partei- und Volksfühderjenige, rer, präsentieren. Nicht auf die Wahrheitsliebe der neuen starken Männer und Frauen kommt es an, sondern auf deren Heilsbringerqualitäten. Massentauglich müssen sie versprechen, die altparteilichen Augiasställe auszumisten. Dass sie häufig ein Teil derselben sind, wird ihnen – angeblich mangels glaubhafter Alternativen – eine Zeit
G lang nachgesehen. ewiss, eine Demokratie ist kein wissenschaftliches Privatissimum. Es geht in einer liberalen Staatsform um viele Dinge, die nicht unmittelbar der Wahrheitsfindung dienen: Würde, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Wohlstand, zuvorderst um Grundund Menschenrechte. Dazu gehören die Freiheitsrechte, die noch jene Meinungen schützen, welche bei der Mehrheit unbeliebt, ja verhasst sind.
Der österreichische Philosoph Karl R. Popper lehrte, dass es in einer offenen Gesellschaft darum gehen müsse, im kritischen Dialog Ideologien statt ihrer Anhänger „sterben“zu lassen. Wenn aber die Suche nach Wahrheit erst erloschen oder zynisch geworden ist, dann droht Krieg – samt der ernüchternden Perspektive, der zufolge die Wahrheit aufseiten des Stärkeren zu finden sei. Das heißt, konsequent gedacht: Die Wahrheit wird bald gar nicht mehr zu finden sein, weil es fortan einzig darum geht, das Volk an die Sieger glauben zu machen; dazu passen die angsteinflößenden Drohgebärden gegenüber allen „Ungläubigen“.
Was die Verwilderung unsewahr rer Wahrheitsmoral betrifft, sind die geistigen Eliten nicht ganz schuldlos. Viel zu lange war unter ihnen davon die Rede, dass es verschiedene Wahrheiten – Plural – gebe. An die eine Wahrheit zu glauben, sei totalitär, darin drücke sich eine „monotheistische“Einstellung aus: Was früher Gott war, der keinen Widerspruch duldete, soll nun „die“Wahrheit sein.
Es stimmt, die Vielfalt der Meinungen und Lebenswelten in einer Demokratie ist eine Folge praktizierter Toleranz. Doch deren Funktion besteht gerade nicht darin, sich allen Positionen gegenüber neutral zu verhalten. Wir brauchen vielmehr Gegenmeinungen, um unsere eigenen Überzeugungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen und ihre Reichweite abschätzen zu können.
Fazit: Das Eingeständnis menschlicher Fehlbarkeit gefährdet die Demokratie nicht, im Gegenteil. Stets muss es allerdings um die vielstimmige Suche nach begründbaren Regeln für alle gehen, oft um faire Kompromisse. Dadurch werden innergesellschaftliche Zerwürfnisse, bis hin zur Unregierbarkeit des Landes, vermieden.
F reilich ist unterdessen zweifelhaft, ob unsere Politiker in der Lage und willens sind, diese Grundlehre des Zusammenlebens, nämlich den Respekt vor der Wahrheit als höchster Friedensinstanz, zu verstehen – so der eingangs erwähnte Pessimist. Es gälte, seine Diagnose zu widerlegen.