Eine neue Situation für Israels Politik
ANALYSE. Die zweite Parlamentswahl in diesem Jahr hat wieder ein unlösbares Patt gebracht. Nun könnten Hinterbänkler die politische Zukunft des Landes bestimmen.
Es war eine für Israel in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Wahl. Zum ersten Mal seit Staatsgründung tönte aus keinem Parteihauptquartier Jubel. Israels Wähler, die in weitaus größerer Zahl als erwartet in der zweiten Parlamentswahl im selben Jahr von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten, bescherten ihrem Land eine verzwickte Pattsituation. Weder das rechts-konservative, religiöse Lager unter Premier Benjamin Netanjahu noch die linke Opposition unter ExGeneralstabchef Benny Gantz errangen eine Mehrheit. Eine dritte Wahlrunde scheint möglich.
Gantz hat sich bereits für die Bildung einer Einheitsregierung ausgesprochen. „Wir haben die Verhandlungen aufgenommen, und ich werde mit allen sprechen“, sagte er vor Anhängern in Tel Aviv. Nur: Ist das realistisch? Die Hauptverantwortlichen dafür, dass Netanjahu keine Mehrheit errang, sind ausgerechnet seine innenpolitischen Erzfeinde, der ehemalige Verbündete Avigdor Lieberman und Israels arabische Bürger. Der Ex-Verteidigungsminister kündigte vor einem Jahr die Gefolgschaft auf und erfand sich für die Wahl neu. Sein Motto – „Macht Israel wieder normal“– half ihm, vom allgemeinen Unmut in der Bevölkerung über die zunehmende Macht der Rabbiner und radikaler Parteien zu profitieren. Netanjahu hatte diesen gegenüber im April in Koalitionsverhandlungen enorme Zugeständnisse gemacht und Vertreter religiöser Randgruppen zu Ministern ernannt.
Die Wähler dankten Lieberman seinen Sinneswandel und machten seine Partei zur viertgrößten Kraft in der Knesset. Ohne ihn können weder Netanjahu noch Gantz das Mandat zur Regierungsbildung erhalten. Im Wahlkampf stellte Lieberman eine Bedingung für seine Zustimmung: Er werde nur dem Politiker seine Stimme geben, der eine säkulare, nationale Einheitsregierung bilde. Für Lieberman erzeugt das aber ein Dilemma: Sollten Gantz und Netanjahu zusammenkommen, hätten sie auch ohne Lieberman eine Mehrheit. Warum ihn also
einbinden? Gantz und Netanjahu sind zwar von Lieberman abhängig, aber nur solange sie nicht miteinander auskommen. Sie können ihm also androhen, ihn zu ignorieren, um ihn auf ihre Seite zu bekommen. Beide werden versuchen ihn umzustimmen, um ihren Rivalen außen vor lassen zu können, und sich das einiges kosten lassen.
Deshalb forderte Lieberman eine „nationale, liberale breite Regierung“. Diese müsse aus seiner Partei, dem Likud und dem Bündnis von Gantz bestehen. Eine breite Koalition sei notwendig, weil Israel sich in einem Notstand befinde.
Ein Faktor, der bei der Wahl neu hinzukam und langfristigen Einfluss auf Israels Politik haben könnte, sind die arabischen Bürger – rund 20 Prozent der Bevölkerung. Seit den 1990ern nahm ihre Wahlbeteiligung kontinuierlich ab. Auch diesmal stilisierte Netanjahu Israels Araber pauschal als Staatsfeinde und potenzielle Wahlfälscher. Doch statt sie abzuschrecken, scheint das eine Trotzreaktion ausgelöst zu haben. Hinzu kommt, dass die mehrheitlich jüdischen Parteien sich aktiv um diese Wähler bemühten. Ihre Anstrengungen zeigten Erfolg. Die Beteiligung im arabischen Sektor stieg und trug maßgeblich dazu bei, dass es Netanjahus Lager erneut nicht gelang, eine Mehrheit zu erringen. Mehr noch: Der Zusammenschluss der arabischen Parteien ist die drittgrößte Fraktion. Kommt es zur Einheitsregierung, würde ihr Parteichef Ayman Odeh Oppositionsführer werden. Es wäre das erste Mal, dass ein Araber diese bedeutende Funktion im jüdischen Staat übernimmt. Der Oppositionsführer trifft alle ausländischen Staatschefs, die Israel besuchen, und wird wöchentlich vom Premier persönlich über die Entwicklungen in allen Bereichen unterrichtet. Israels Araber wären ein wichtiger und sichtbarer Akteur der Innen- und Außenpolitik.
Schon am Wahlabend kontaktierte Gantz Odeh – ein Novum in der Politik. Dieser hatte im Wahlkampf seinerseits nicht ausgeschlossen, einen Teil der Regierungsverantwortung zu übernehmen – ebenfalls eine revolutionäre Idee für Israels Araber, die die ideologischen Grundlagen des zionistischen Staates und seine Exekutive jahrzehntelang ablehnten.
So wird Israels Zukunft dadurch entschieden, wer zuerst nachgeben wird: Wird es Lieberman sein, der zum Ex-Boss zurückkehrt? Oppositionspolitiker, die eine einmalige Chance ergreifen wollen, um in Netanjahus Regierung zu dienen? Oder Mitglieder des Likud, die ihres Vorsitzenden überdrüssig geworden sind und ihre Partei selbst anführen wollen? Die kommenden Wochen werden voller Überraschungen sein. Von unserem Korrespondenten
Gil Yaron